Byrne & Balzano 3: Lunatic
noch sonst etwas. Roland drehte sich mehrmals um. Er wusste nicht mehr, wo er war. Er hatte in dem Schneegestöber völlig die Orientierung verloren.
»Sean?«, rief er.
Stille. Nur der weiße, menschenleere Wald.
»Sean!«
Keine Antwort. Seine Stimme wurde durch den Schneefall und die Bäume gedämpft und von der Dämmerung verschluckt. Roland beschloss umzukehren. Für eine Wanderung durch den Schnee war er nicht richtig angezogen, und das hier war nicht seine Welt. Er würde zum Van zurückgehen und dort auf Sean warten. Er senkte den Blick. Das Schneegestöber hatte seine eigenen Spuren fast gänzlich unkenntlich gemacht. Roland drehte sich um und lief, so schnell er konnte, in die Richtung, aus der er gekommen war. Das glaubte er zumindest.
Als er durch den Schnee stapfte, frischte der Wind plötzlich auf. Roland drehte der Brise den Rücken zu, bedeckte sein Gesicht mit dem Schal und wartete, bis der Wind abflaute. Dann hob er den Blick und schaute durch eine schmale Schneise in den Wald hinein. Da stand ein Farmhaus, und in der Ferne, vielleicht drei-, vierhundert Meter entfernt, erblickte er eine große Brücke und noch etwas anderes. Es schien eine Schautafel zu sein, auf der die Attraktionen eines Vergnügungsparks abgebildet waren.
Meine Augen müssen mir einen Streich spielen, dachte er.
Roland wandte sich dem Farmhaus zu. Plötzlich spürte er eine Bewegung zu seiner Linken und vernahm Geräusche, ein leises Knacken. Es hörte sich aber nicht so an, als wäre jemand auf einen Zweig getreten – eher wie ein Stoff, der im Wind raschelte. Roland wirbelte herum. Er sah nichts. Dann hörte er wieder ein Geräusch, diesmal ganz in seiner Nähe. Er richtete die Taschenlampe in den Wald hinein und erblickte eine dunkle Silhouette, die sich im Lichtstrahl hin und her bewegte und zum Teil durch die Kiefern verdeckt wurde, die zwanzig Meter entfernt standen. In dem Schneefall konnte er nicht erkennen, was es war.
War es ein Tier? Irgendein Schild?
Ein Mensch?
Als Roland langsam näher heranging, erkannte er schließlich, was es war. Es war kein Mensch und auch kein Schild. Es war Seans Mantel. Er hing an einem Baum und war von frischen Schneeflocken bedeckt. Sein Schal und seine Handschuhe lagen auf dem Boden.
Sean war nirgendwo zu sehen.
»O nein«, sagte Roland. »O Herr, nein!«
Roland zögerte einen Moment, zog dann Seans Mantel vom Baum und schüttelte den Schnee ab. Zuerst hatte er gedacht, der Mantel hätte an einem abgebrochenen Ast gehangen. Roland schaute genauer hin. Der Mantel hing an einem kleinen Taschenmesser, das in die Rinde des Baumes gestoßen worden war. Unter dem Mantel war etwas in den Baum geritzt. Es war rund und hatte einen Durchmesser von vielleicht fünfzehn Zentimetern. Roland richtete seine Taschenlampe darauf.
Es war das Gesicht des Mondes, das frisch in die Rinde geritzt worden war.
Roland begann zu frösteln. Und das hatte nichts mit der eisigen Kälte zu tun.
»Es ist so herrlich kalt«, flüsterte eine Stimme, die der Wind zu ihm trug.
Ein Schatten bewegte sich ganz in der Nähe durch die Dunkelheit, war dann wieder verschwunden und wurde von dem unaufhörlichen Schneegestöber verschluckt.
»Wer ist da?«, fragte Roland.
»Ich bin Moon«, flüsterte die Stimme jetzt hinter ihm.
»Wer?«, fragte Roland leise, ängstlich.
»Und du bist der Schneemann.«
Roland hörte Schritte. Es war zu spät.
Er flüsterte ein Gebet.
Schnee wirbelte auf, als Roland Hannahs Welt in Dunkelheit versank.
83.
D ie Waffe im Anschlag lief Jessica an der Wand entlang. Sie befand sich in einem kurzen Korridor zwischen der Küche und dem Wohnzimmer des Farmhauses. Adrenalin strömte durch ihre Adern und puschte sie auf.
Sie hatte die Küche blitzschnell gesichert. In dem Raum standen nur ein Holztisch und zwei Stühle. Eine fleckige Blumentapete über einem weiß gestrichenen Sockel. Die Schränke waren leer. Ein alter gusseiserner Ofen, der vermutlich seit Jahren nicht benutzt worden war. Alles war von einer dicken Staubschicht bedeckt. Es war fast wie in einem Museum, das die Zeit vergessen hatte.
Als Jessica durch den Korridor Richtung Wohnzimmer lief, lauschte sie angestrengt, ob irgendein Geräusch auf ein menschliches Wesen hinwies. Alles, was sie hörte, war das Dröhnen ihres eigenen Pulsschlags in den Ohren. Sie wünschte sich, eine schusssichere Kevlar-Weste zu tragen und Unterstützung zu haben. Sie hatte weder das eine noch das andere. Jemand hatte sie absichtlich im
Weitere Kostenlose Bücher