Byrne & Balzano 3: Lunatic
und bestellte sich den Bourbon. Einen doppelten. Ehe der Ober ihn brachte, klingelte Byrnes Handy.
Es war Jessica.
»Was gibt’s?«, fragte er.
»Eine Leiche«, erwiderte seine Partnerin – nicht gerade die Worte, die ein Detective der Mordkommission am Heiligen Abend hören wollte.
42.
D er Tatort lag ebenfalls am Ufer des Schuylkill River, diesmal neben dem Bahnhof in Shawmont, in der Nähe von Upper Roxborough. Der Shawmont-Bahnhof war einer der ältesten der USA. Hier hielten keine Züge mehr, und das Gebäude war verfallen, doch es war ein beliebtes Ziel für Eisenbahnfans und Puristen. Der Bahnhof wurde oft fotografiert oder auf andere Weise künstlerisch dargestellt.
Genau unterhalb des Bahnhofs, wo das Gelände steil zum Fluss hin abfiel, stand das riesige, baufällige Wasserwerk; es befand sich auf einem der letzten am Flussufer gelegenen Grundstücke in der Stadt, die in Privatbesitz waren.
Die riesige Pumpstation war seit Jahrzehnten von Büschen, wildem Wein und den knorrigen Ästen abgestorbener Bäume überwuchert. Bei Tageslicht war es ein imposantes Relikt aus der Zeit, als das Wasserwerk das gestaute Wasser aus dem Flat-Rock-Damm ins Roxborough-Reservoir gepumpt hatte. Nachts war es nicht mehr als ein städtisches Mausoleum, ein düsterer, furchteinflößender Zufluchtsort für Drogendealer und heimliche Treffen aller Art. In der großen Halle war alles abmontiert und herausgerissen worden, was auch nur im Entferntesten von Wert war. Die Wände waren bis zu einer Höhe von ungefähr drei Metern mit Graffitis besprüht. Ein paar ehrgeizige Sprayer hatten ihre Werke sogar auf einer Höhe von gut fünf Metern auf der Wand verewigt. Der zerklüftete Boden bestand aus aufgerissenem Beton, der von Müll übersät war.
Als Jessica und Byrne sich dem Gebäude näherten, sahen sie die hellen Lichter der aufgestellten Scheinwerfer, die auf die Fassade am Ufer gerichtet waren. Ein Dutzend Polizisten, Kriminaltechniker und Detectives warteten auf sie.
Die tote Frau saß im Fenster, die Füße an den Knöcheln gekreuzt, die Hände auf dem Schoß gefaltet. Im Gegensatz zu Kristina Jakos war dieses Opfer anscheinend nicht verstümmelt. Auf den ersten Blick hätte man meinen können, die Tote würde beten, doch bei näherem Hinsehen war zu erkennen, dass ihre Hände sich um irgendetwas wölbten.
Jessica betrat das Gebäude. Von den Ausmaßen mutete es beinahe wie eine mittelalterliche Festung an. Seit das Werk geschlossen war, verfiel es zusehends. Man hatte zahlreiche Pläne diskutiert, was die Zukunft des Gebäudes betraf, nicht zuletzt die Möglichkeit, es in eine Trainingshalle für die Philadelphia Eagles umzubauen, das Footballteam der Stadt. Doch die Instandsetzung hätte riesige Summen verschlungen; daher war bisher noch nichts unternommen worden.
Als Jessica sich dem Opfer näherte, achtete sie darauf, keine möglichen Fußspuren zu zertreten, obwohl in dem Gebäude kein Schnee lag und verwertbare Fußabdrücke wahrscheinlich nicht zu finden waren.
Jessica richtete ihre Taschenlampe auf das Opfer. Die Frau war Ende zwanzig, Anfang dreißig. Sie trug ein langes Kleid. Mit dem elastischen Samtoberteil und dem gekräuselten Rock schien es ebenfalls aus einer anderen Epoche zu stammen. Um den Hals der Toten war ein Nylongürtel geschlungen, der im Nacken verknotet war. Er sah aus wie ein exaktes Duplikat des Gürtels, mit dem Kristina Jakos erwürgt worden war.
Jessica bewegte sich an der Wand entlang, während sie den Blick schweifen ließ. Die Kriminaltechniker würden den Tatort in Kürze absperren und unter die Lupe nehmen. Ehe Jessica hinausging, suchte sie mit ihrer Taschenlampe sorgfältig die Wände ab. Dann sah sie es: Ungefähr sieben Meter vom Fenster entfernt, verborgen inmitten zahlreicher Gang-Tags, entdeckte sie das Bild des weißen Mondes.
»Kevin.«
Byrne trat ein und folgte dem Lichtstrahl. Dann drehte er sich um und schaute Jessica in die Augen. Sie hatten als Partner mehr als einmal vor dem Bösen gestanden, dem Verderbten und Mörderischen, und hatten geglaubt, es verstanden zu haben. Doch jedes Mal hatten sie einsehen müssen, dass das Böse noch viel schrecklicher war, schier unfassbar grausam, und dass sie häufig alles, was sie über einen Fall zu wissen glaubten, verwerfen mussten, um alles in einem ganz neuen Licht zu betrachten.
Als sie draußen standen, bildete ihr Atem weiße Schwaden in der Nachtluft. »Der Gerichtsmediziner wird erst in ungefähr einer Stunde
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