Byrne & Balzano 4: Septagon
Mädchen war ungefähr fünfzehn und hatte noch ein wenig Babyspeck auf den Rippen. Es hatte ein Engelsgesicht, aber harte Augen. Eves Blick glitt über die Kleidung des Mädchens – eine verwaschene Jeans, eine Kunstlederjacke mit einem Kragen aus Pelzimitat, glänzende weiße Turnschuhe von New Balance, die aussahen, als hätte das Mädchen sie gerade aus dem Karton genommen.
»Hi«, sagte Eve.
Das Mädchen musterte sie. »Hi.«
»Bist du Cassandra?«
Das Mädchen schaute sich um, reckte die Schultern und schniefte. »Ja.«
»Freut mich, dich kennenzulernen.« Eve hatte Cassandras Namen von einem Straßenjungen namens Carlito erfahren. Es kursierte das Gerücht, dass Cassandra entführt worden war. Eve hatte zwei Zwanziger lockergemacht, um weitere Informationen zu erhalten.
»Ja. Hm. Ich freue mich auch.«
»Sollen wir uns an einen Tisch setzen?«, fragte Eve.
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Ich will nicht lange bleiben.«
»Okay. Hast du Hunger?«
Cassandra schüttelte wieder den Kopf, dieses Mal zögernd. Sie hatte Hunger, war aber zu stolz, um sich etwas spendieren zu lassen.
»Okay.« Eve musterte das Mädchen einen Moment schweigend, und das Mädchen musterte sie ebenfalls. Sie wussten beide nicht, wie sie anfangen sollten.
Ein paar Sekunden später rutschte Cassandra auf den Hocker neben Eve und begann.
Cassandra erzählte ihr die ganze Geschichte, und Eve überlief mehrmals eine Gänsehaut. Die Geschichte ähnelte ihrer eigenen. Eine andere Zeit, andere Schatten, aber dasselbe Horrorszenario. Während Cassandra erzählte, warf Eve verstohlene Blicke auf die Hände des Mädchens. Mal zitterten sie, mal waren sie zu Fäusten geballt.
Seit zwei Monaten glaubte Eve, der Wahrheit näher zu kommen, aber das hatte sich immer nur im Kopf abgespielt. Jetzt spürte sie es im Herzen.
»Kannst du mir das Haus zeigen?«, fragte Eve.
Das Mädchen wich ein Stück zurück und schüttelte den Kopf. »Nein. Tut mir leid. Das kann ich nicht. Ich kann Ihnen sagen, wo es ungefähr ist, aber zeigen kann ich’s Ihnen nicht.«
»Warum nicht?«
Cassandra zögerte und schob die Hände in die Jackentaschen. Eve fragte sich, was wohl in den Taschen steckte. »Ich kann es einfach nicht. Das ist alles. Ich kann nicht.«
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Eve. »Es gibt jetzt nichts mehr, wovor du dich fürchten musst.«
Das Mädchen lachte freudlos. »Ich glaube, Sie verstehen nicht.«
»Was verstehe ich nicht?«
Einen Augenblick lang dachte Eve, Cassandra würde einfach gehen. Dann aber sagte sie zögernd: »Ich gehe da nicht mehr hin. Ich kann niemals dorthin zurück.«
Eve musterte das Mädchen. Der Anblick brach ihr fast das Herz. Cassandra hatte den gehetzten Blick eines Menschen, der stets auf der Hut war, niemals schlief und niemals seine Wachsamkeit aufgab. Sie war das Spiegelbild von Eve, als diese in demselben Alter gewesen war.
Eve wusste, dass sie auf ihre nächste Frage keine Antwort bekommen würde. So war es immer. Sie stellte die Frage trotzdem. »Warum bist du nicht zur Polizei gegangen?«
Cassandra schaute auf den Boden. »Ich hab meine Gründe.«
»Okay«, sagte Eve. »Ich verstehe. Glaub mir, ich verstehe das wirklich.« Sie zog einen Fünfzigdollarschein aus der Hosentasche, schob ihn mit der flachen Hand über die Theke und hob einen Finger.
Cassandra senkte den Blick und starrte ein paar Sekunden auf die Banknote, ehe sie den Blick wieder zu Eve hob. »Ich brauch das Geld nicht.«
Eve war schockiert. Straßenkinder lehnten niemals Geld ab. Es musste noch etwas anderes dahinterstecken. Doch Eve konnte sich nicht vorstellen, was es war. »Wie meinst du das?«
»Ich will das Geld nicht. Ich komm schon klar.«
»Ganz sicher?«
Eine lange Pause; dann nickte das Mädchen.
Eve steckte den Schein wieder ein und schaute sich im Restaurant um. Niemand beobachtete sie. Nachtschwärmer wurden nie beobachtet. Sie wandte dem Mädchen wieder den Blick zu. »Was kann ich für dich tun?«, fragte sie. »Sag’s mir.«
Cassandra trommelte ein paar Sekunden lang mit den Fingern auf die Theke, ehe sie Eves Cheeseburger vom Teller nahm, ihn in eine Serviette wickelte und in die Tasche steckte. Blitzschnell steckte sie noch ein paar Süßstofftütchen ein. Schließlich drehte sie sich auf dem Hocker um und wollte aufspringen, verharrte jedoch mitten in der Bewegung und warf einen Blick über die Schulter. »Ich sag Ihnen, was Sie für mich tun können«, erklärte Cassandra. Tränen
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