Cabal - Clive Barker.doc
machen würden. Aber sein zärtlicher, eifriger Umgang mit ihr deutete darauf hin, daß seine Avancen mehr als nur Pflichterfüllung waren. Er konnte sie einfach nicht in die Tat umsetzen, was ihn in Wut und solche Depressionen stürzte, daß sie sich zurückhielt und ihre Zärtlichkeiten abkühlte, um kein weiteres Versagen herauszufordern.
Aber sie träumte oft von ihm; Szenarien, die unzwei-deutig sexuell waren. Keinerlei Symbolismus. Nur sie und Boone in kahlen Zimmern, beim Ficken. Manchmal klopf-ten Leute an die Tür, die hereinkommen und zusehen wollten, aber soweit kam es nie. Er ge hörte ihr allein; in all seiner Schönheit und Verdrehtheit.
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Aber nur in Träumen. Jetzt mehr denn je, nur in Träumen.
Ihre gemeinsame Geschichte war vorbei. Keine dunklen Tage mehr, an denen seine Unterhaltung einen Kreis von Niederlagen bildeten, keine plötzlichen Augenblicke des Sonnenscheins, wenn sie einen Ausdruck gehört hatte, der ihm Hoffnung gab. Das unvermittelte Ende hatte sie nicht unerwartete getroffen. Aber mit so etwas hatte sie nicht gerechnet. Nicht damit, daß Boone als Killer entlarvt und in einer Stadt niedergeschossen werden wür-de, von der sie noch nie gehört hatte. Das war das falsche Ende.
Aber so schlimm es war, es sollte noch schlimmer kommen.
Nach dem Telefonanruf war das unvermeidliche Kreuz-verhör durch die Polizei gekommen: Hatte sie ihn je verbrecherischer Aktivitäten verdächtigt? War er beim Umgang mit ihr jemals gewalttätig gewesen? Sie erzählte ihnen ein dutzendmal, daß er sie nie berührt hatte, es sei denn in Liebe, und dann nur widerstrebend. Ihre Schilderung seiner Zögerlichkeit schien ihnen eine unausgespro-chene Bestätigung zu sein, sie wechselten wissende Blik-ke, während sie errötend von ihrem Liebesleben sprach.
Als sie mit ihren Fragen fertig waren, erkundigten sie sich, ob sie den Leichnam identifizieren würde. Sie willigte in diese Pflicht ein. Sie war gewarnt worden, daß es unangenehm sein würde, aber sie wollte ein Lebewohl.
Und da wurden die Zeiten, die neuerdings seltsam geworden waren, noch seltsamer.
Boones Leichnam war verschwunden.
Anfangs konnte ihr niemand sagen, warum der Identi-fizierungsprozeß sich verzögerte; sie wurde mit Entschul-digungen hingehalten, die nicht ganz nach Wahrheit klan-65
gen. Aber schließlich hatten sie keine andere Möglichkeit mehr, als die Wahrheit zu sagen. Der Leichnam, der über Nacht in der Leichenhalle der Polizei gelassen worden war, war einfach verschwunden. Niemand wußte, wie er gestohlen worden war – die Leichenhalle war abgeschlos-sen gewesen, von gewaltsamem Zutritt war keine Spur zu finden – oder warum. Eine Untersuchung war eingeleitet worden, aber den verlegenen Gesichtern, die die Nachricht überbrachten, konnte man entnehmen, daß nicht viel Hoffnung zu bestehen schien, die Leichenräuber zu finden. Die gerichtsmedizinischen Untersuchungen an Aaron Boone würden ohne Leichnam fortgesetzt werden müssen.
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Es quälte sie, daß er jetzt vielleicht nie zur letzten Ruhe gebettet werden würde. Der Gedanke, sein Leichnam könnte das Spielzeug eines Perversen geworden sein, oder schlimmer, eine gräßliche Ikone, verfolgte sie Tag und Nacht. Sie schockierte sich selbst mit der Fähigkeit sich vorzustellen, welchen Verwendungszwecken sein armes Fleisch zugeführt werden mochte, und ihr Verstand geriet in eine abwärtsgerichtete Spirale des Morbi-den, die ihr – zum ersten Mal in ihrem Leben – Angst um ihre eigene geistige Normalität machte.
Boone war ein Geheimnis in ihrem Leben gewesen, seine Zuneigung ein Wunder, das ihr ein nie gekanntes Selbstwertgefühl vermittelt hatte. Jetzt, im Tod, vertiefte sich dieses Geheimnis noch. Es schien, als hätte sie ihn überhaupt nicht gekannt, nicht einmal in den Augenblik-66
ken traumhafter Klarheit zwischen ihnen, wenn er bereit gewesen zu sein schien, sich den Schädel einzuschlagen, bis sie die Belastung von ihm genommen hatte; selbst da hatte er sich in einem geheimen Leben von Morden vor ihr versteckt.
Das schien kaum möglich zu sein. Wenn sie sich ihn jetzt vorstellte, wie er ihr idiotische Grimassen schnitt oder in ihrem Schoß weinte, war der Gedanke, daß sie ihn nicht richtig gekannt hatte, wie ein körperlicher Schmerz.
Sie mußte diesen Schmerz irgendwie heilen, oder sich darauf vorbereiten, das Wundmal seines Verrats für immer zu tragen. Sie mußte wissen, warum dieses andere Leben ihn ins Unbekannte hinausgeführt hatte. Die beste
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