Cabo De Gata
inzwischen voll besetzten Café nicht etwa loszuwerden versuchte, sondern mir sogar noch eine Zeitung auf den Tisch legte, hatte zur Folge, dass ich einen zweiten (oder dritten) Milchkaffee bestellte und zumindest pro forma in der Zeitung herumblätterte, obwohl mein Spanisch selbst für das Niveau eines Hochauflagenblattes zu jämmerlich war. Irgendwo, vielleicht schon auf der ersten Seite, fand ich einen Wetterbericht, den ich verstand, denn er hatte im Wesentlichen die Form einer Karte. Ein Spektrum von Blau bis Orange zeigte die Wärmeverteilung auf dem spanischen Festland und, in Ausrisskarten, auf den Mittelmeerinseln, und der kräftigste orangefarbene Fleck befand sich am südöstlichen Zipfel des Landes, rings um einen Punkt, der – ich verstand nicht recht, ob die Region als Ganzes oder ein bestimmter Ort gemeint war – Cabo de Gata hieß.
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Wenn ich jetzt, fünfzehn Jahre und ein Jahrtausend später, auf dem Weg von Minneapolis nach Tokio im Flugzeug sitze und, das Notebook auf den Knien, diese Sätze tippe, kommt es mir unwahrscheinlich, wie eine nachträgliche Erfindung vor, dass ich damals nicht gewusst haben soll, was Andalusien ist.
Auch erinnere ich mich kaum noch, was ich empfand, als ich jenes Cabo de Gata in meinem Reiseführer suchte und es als eine Ortschaft im Südosten Andalusiens aufgeführt fand, was daran liegen mag, dass ich die peinliche Entdeckung sofort verdrängte – die Entdeckung nämlich, dass Andalusien eine wahrhaftige, real existierende Landschaft war.
Wenige Jahre davor, noch zu DDR-Zeiten, hatte ich nämlich den berühmten Buñuel-Film Ein andalusischer Hund gesehen. An den Film selbst habe ich so gut wie keine Erinnerung – zu meiner Entschuldigung darf ich anführen, dass die Umstände der Aufführung äußerst zermürbend waren: Wir saßen in einem halb legalen und unbeheizten Klubkeller in Ost-Berlin, der Film lief in Originalsprache mit, wenn überhaupt, englischen Untertiteln; er riss mehrmals während der Aufführung, und ich bin nicht einmal sicher, ob ich ihn bis zum Ende gesehen habe oder ob ich, entnervt von den ständigen Pausen, der Kälte und der schwerfälligen, auf die Umerziehung des Publikums zielenden Ästhetik, den Klubkeller vorzeitig verließ oder Teile der Aufführung rauchend in der darüber gelegenen Bar verbrachte. Woran ich mich aber erinnere, ist der Eindruck, den der Titel des Films bei mir hinterließ, der sich mir vermutlich einprägte, gerade weil ich ihn nicht ganz verstand, denn ich brachte das Wort andalusisch in keiner Weise mit der Geographie in Verbindung, sondern hielt es für eine Art Phantasie-Adjektiv, dessen Bedeutung ich in der Nähe von wunderbar oder zauberhaft wähnte. Andalusien, das klang nicht nur fern und fremd wie die Namen all jener Orte, die unerreichbar hinter dem Eisernen Vorhang lagen, es war, so glaubte ich, ein Märchenort, eine Erfindung – bis ich es auf der Wetterkarte jener spanischen Zeitung entdeckte, und als ich dann noch in meinem Reiseführer las, Cabo de Gata sei «das letzte romantische Fischerdorf» Andalusiens, wo die Boote, wie es wörtlich hieß, «noch mit der Handwinde» aus dem Wasser gezogen würden, als ich las, man spüre im Nationalpark von Cabo de Gata schon einen «Hauch von Afrika» – war mir klar, dass dies der Ort war, den ich gesucht hatte.
Ich nahm den Nachtbus. Ich erinnere mich an eine grauenvolle Fahrt. Vermutlich hat der Busfahrer die Video-Berieselung irgendwann abgestellt, aber durch meine Erinnerung spukt ein endloser Film, unentrinnbare Folter, die Bilder springen mich noch als Reflexionen aus dem dunklen Fensterglas an, Schüsse, Geräusche, Geschrei dringen in meine wehrlosen Ohren, in mein Gehirn. Ich sitze zusammengekauert auf meinem Platz und hasse die Mitreisenden dafür, dass sie diese Marter ertragen, ja anscheinend sogar wünschen! Einmal halten wir in einem Dorf, von dem mir nur ein unverputztes, kubisches Haus im Schein einer Straßenlaterne im Gedächtnis geblieben ist. Dann fahren wir durch eine vom Morgen angegraute Landschaft, baumlos, hügelig, kahl, und ich erinnere mich, wie ich halblaut zum Fenster hin, zu mir selbst den gegen alle Wahrscheinlichkeit sprechenden Satz sage: Ich bin in Andalusien.
Als Nächstes: der Busbahnhof von Almería, ein elender, wenn ich nicht irre, rosafarbener Betonbau. Mehr sehe ich von Almería nicht. Im Reiseführer habe ich gelesen, dass die Stadt den Besuch kaum wert sei. Das Einzige, was mich hier interessiert, ist, wie
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