Cäsar Birotteau (German Edition)
Cäsar. »Wir sind nächsten Sonntag bei der Tante Ragon zu Tisch. Da sehen wir uns wohl?«
Das ist ein Kerl! dachte er bei sich, als er den Laden verließ. Kaum noch Kommis und jetzt schon ein großer Kaufmann!
Der Sonntag im Hause Ragon sollte für Birotteau und seine Frau die letzte ungetrübte Freude während der neunzehn glücklichen Jahre ihrer Ehe sein.
Ragon wohnte in der Rue du Petit-Bourbon-Saint-Sulpice im zweiten Stock eines altmodischen Hauses. An den alten Wänden tanzten noch die Schäferinnen seliger Rokokotage mit Körben auf dem Rücken und weideten ihre Schäflein. Ragons waren kuriose Nachzügler jenes Jahrhunderts, dessen Bürger, würdevoll und steif, voll Respekt vor dem Adel, devot vor dem Souverän und der Kirche, alles in allem so urkomisch waren. Die Möbel, die Standuhren, das Leinenzeug, das Tischgerät, alles war patriarchalisch und antik-eigenartig. In dem mit altem Damast ausgeschlagenen und mit brokatbesetzten Vorhängen geschmückten Salon prangte über allerhand Antiquitäten ein großartiger Popinot im Schöffenornat, von Latour gemalt, der Vater von Frau Ragon, im Bilde ein Grandseigneur mit der selbstzufriedenen Miene des Parvenüs. Das lebendige Pendant dazu war Frau Ragon mit ihrem kleinen englischen Hunde von der Rasse des Lieblingshundes König Karls des Zweiten. Wenn sie auf dem hartpolstrigen Rokokosofa saß, das sicherlich nie die Rolle des Sofas von Crebillon gespielt hatte, sah sie süperb aus.
Unter allen den archaischen Vorzögen der Ragons war ihr bester der Besitz eines Kellers alter Weine und Liköre. Deshalb hatten auch ihre kleinen Diners einen großen Ruf. Zu dem alten Hausstande der beiden alten Leute gehörte eine alte Köchin von altertümlichster Ergebenheit.
An Gästen waren erschienen: Kreisrichter Popinot, Onkel Pillerault, Anselm Popinot, die drei Birotteaus, die drei Matifats und der Abbé Loraux.
Diese zehn Personen waren um fünf Uhr vollzählig. Im Hause Ragon pflegte man zur erbetenen Zelt zu kommen; hier galt die neumodische, vom guten Ton angenommene Unpünktlichkeit nicht.
Cäsarine Birotteau wußte schon vorher, daß ihr Frau Ragon Anselm zum Tischnachbar geben würde; in puncto Liebe verstehen sich alle Frauen einschließlich der Betschwestern und Originale. Die Tochter des Parfümhändlers hatte sich so gekleidet, daß sie dem armen Anselm den Kopf vollends verdrehte. Ihre Mutter, die nur ungern auf einen Notar als Schwiegersohn verzichtete, hatte ihr nicht ohne anzügliche Bemerkungen bei der Toilette geholfen; sie zupfte am züchtigen Halstuch herum, bis Cäsarines Schultern und ihre wirklich elegante Halslinie gehörig zu sehen waren. Die griechische Korsettage durfte nicht ganz schließen und einen Blick auf den köstlichen kleinen Busen gestatten. Ihr blaugraues Merinokleid verriet eine graziöse feine Figur, und das à la chinoise frisierte Haar hielt die frische Haut des Genickes frei. Kurzum, Cäsarine sah zum Anbeißen hübsch aus. Sogar Frau Matifat konnte nicht umhin, dies einzugestehen, allerdings ohne zu wissen, daß sich Mutter und Tochter darin einig waren, den kleinen Popinot zu umgarnen.
Kein Mensch störte die verliebte Plauderei, die das verliebte Paar in einer winterkalten Fensternische führte. Die Unterhaltung der übrigen war lebhaft geworden, nachdem der Richter Popinot Roguins Flucht erwähnt hatte.
Bei dem Namen Roguin hatte Frau Ragon ihren Bruder auf den Fuß getreten, und Pillerault hatte dem Richter durch einen Wink nach Frau Birotteau hin bedeutet, zu schweigen. Aber Konstanze bemerkte mit traurig-sanfter Resignation:
»Ich weiß alles!«
»Na«, fragte Frau Matifat den kleinlaut dasitzenden Birotteau, »mit wie viel ist er Euch denn durchgebrannt? Wenn man auf den Klatsch hören wollte, dann pfifft Ihr auf dem letzten Loche!«
»Zweihunderttausend Francs hatte er von mir. Wegen vierzigtausend, einer ihm von einem seiner Klienten anvertrauten Summe, die er in Wirklichkeit gar nicht mehr besaß, die er mir aber angeblich als Hypothek verschaffen wollte, habe ich einen Prozeß begonnen.«
»Er kommt in dieser Woche zur Verhandlung«, bemerkte der Richter Popinot. »Es muß zunächst festgestellt werden, wie lange das Depositum des angeblichen Darleihers bereits unterschlagen war.«
»Werden wir den Prozeß gewinnen?« fragte Konstanze.
»Das kann ich nicht sagen«, entgegnete der Jurist.
»Kann denn in einer so einfachen Sache ein Zweifel obwalten?« fragte Pillerault. »Das Geld ist niemals
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