Cäsar Cascabel
dem östlichen Schneetreiben verweht worden sein.
Trotzdem aber war nicht alle Gefahr beseitigt, wie man bald sehen wird.
Selbstverständlich verließen die Schiffbrüchigen die Belle-Roulotte weder bei Nacht noch bei Tage. Sie bot ihnen ein sicheres Obdach gegen die Winterstürme und gegen die Kälte, die sich, wie das langsame und stetige Sinken des Thermometers bewies, immer strenger anließ.
Nichtsdestoweniger stellten Herr Sergius und Jean nach wie vor ihre täglichen Beobachtungen in dem Augenblicke an wo ein undeutlicher Schein jenen Horizont färbte, hinter welchem die Sonne bis zur Sonnenwende am einundzwanzigsten Dezember immer tiefer hinabgehen würde. Und immer wieder jene getäuschte Hoffnung, irgend einen Walfischfahrer zu erspähen, der in diesen Strichen überwinterte, oder einem Hafen in der Beringstraße zustrebte! Immer wieder jene getäuschte Hoffnung, die Eistafel endgültig an irgend ein Eisfeld stoßen zu sehen, das mit der sibirischen Küste in Verbindung stände! Dann kehrten sie beide ins Lager zurück und suchten auf der Karte die vermutliche Richtung ihrer Fahrt in Evidenz zu halten.
Wie bereits erwähnt, hatte die Jagd seit dem Aufbruche von Port-Clarence aufgehört, die Küche der Belle-Roulotte mit frischem Wildbret zu versorgen. Was hätte Cornelia mit jenen Schneevögeln anfangen sollen, deren öliger Beigeschmack so schwer zu beheben ist? Ihrer kulinarischen Begabung zum Trotze würden die Gäste Schneehühnern und Sturmvögeln keinen guten Empfang bereitet haben. Jean hütete sich denn auch, sein Pulver und Blei an jenes Geflügel von allzu arktischer Herkunft zu vergeuden. Indessen unterließ er es nie, seine Flinte mitzunehmen, wenn sein Dienst ihn ins Freie rief; und eines Tages, am Nachmittag des sechsundzwanzigsten November, hatte er Gelegenheit, sich derselben zu bedienen. Der Schall eines Schusses drang in das Lager und gleich darauf ertönte Jeans Ruf um Hilfe.
Das erregte natürlich ein gewisses, mit Besorgnis vermischtes Staunen. Herr Sergius und Herr Cascabel, Xander und Clou stürmten, von den beiden Hunden gefolgt, hinaus.
»Herbei!… Herbei!…« schrie Jean.
Dabei lief er hin und her, als wolle er irgend einem Tier den Rückzug abschneiden.
»Was giebt’s?« rief Herr Cascabel.
»Ich habe einen Seehund verwundet und er wird uns entkommen, wenn wir ihn das Meer erreichen lassen!«
Es war wirklich ein Tier von großem Umfang, das, in die Brust getroffen, den Schnee mit seinem Blute rötete und das ohne Zweifel entkommen sein würde, wären Herr Sergius und seine Gefährten nicht rechtzeitig herbeigeeilt. Clou stürzte sich tapfer auf das Tier, welches den jungen Xander gleich zu Anfang mit einem Schlage seines Schwanzes umgeworfen hatte. Der Seehund wurde, nicht ohne Mühe, überwältigt, und Jean tötete ihn, indem er ihm den Lauf seiner Flinte an den Kopf setzte, durch einen zweiten Schuß.
Das war nun zwar auch kein leckerer Bissen für Cornelias Stammgäste, aber es war doch ein bedeutender Reservevorrat an Fleisch für Wagram und Marengo. Hätten die beiden Hunde die Gabe der Rede besessen, sie würden Jean für diesen willkommenen Zuschuß gedankt haben.
»Warum reden die Tiere eigentlich nicht?« fragte Herr Cascabel aus diesem Anlasse, als alle um den Mittagstisch versammelt waren.
»Aus dem sehr einfachen Grunde, weil sie nicht intelligent genug dazu sind,« antwortete Herr Sergius.
»Also glauben Sie,« fragte Jean, »daß der Mangel der Sprache einem Mangel an Intelligenz zuzuschreiben ist?«
»Allerdings, mein lieber Jean, wenigstens bei den höheren Tierarten. So besitzt zum Beispiel der Hund einen Kehlkopf, der mit dem des Menschen identisch ist. Er könnte also sprechen, und wenn er es nicht thut, so ist es, weil seine Intelligenz nicht hinreichend entwickelt ist, um seine Eindrücke in Worte zu kleiden.«
Eine zum mindesten diskutierbare These, die Herr Sergius da aufstellte! – die aber von einigen modernen Physiologen zugestanden wird.
Es ist erwähnenswert, daß sich allmählich eine günstige Wandlung im Geiste des Herrn Cascabel vollzog. Wenn er sich auch noch immer die Schuld an der Situation beimaß, so gewann seine Philosophie doch wieder die Oberhand. Gewöhnt, sich aus den ärgsten Verlegenheiten zu ziehen, konnte er nicht recht daran glauben, daß sein guter Stern erloschen sein sollte…. Nein! höchstens ein wenig umwölkt. Überdies war die Familie Cascabel bisher nicht stark von physischen Prüfungen heimgesucht worden.
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