Cäsar Cascabel
selber bildet.
Die einzige Rettung, auf die man noch hoffen durfte, war, daß das Meer unter der Einwirkung intensiverer Kälte in seiner ganzen Ausdehnung zufröre – was nicht mehr lange anstehen konnte, was schon vor mehreren Wochen geschehen sein sollte! Dann würde das Treibeis sich am Rande des Eisfeldes stauen, und indem sie gen Süden hinab zogen, konnten die Schiffbrüchigen das sibirische Festland zu erreichen suchen. Aber was sollten sie auf der langen Reise anfangen, wenn sie sich in Ermanglung von Zugtieren gezwungen sahen, die Belle-Roulotte im Stiche zu lassen?
Der Wind blies noch immer, wenn auch nicht ganz so heftig wie zuvor, aus Osten. In diesen abscheulichen Seestrichen rollten lange Wogen mit großem Geräusch heran und prallten von den Kanten des schwimmenden Blockes ab, um sich dann emporschlagend darüber zu ergießen, wie über das Verdeck eines beilegenden Schiffes, und solche Erschütterungen hervorzurufen, daß die Eistafel über und über schwankte und die Befürchtung wachrief, sie werde sich plötzlich spalten. Dabei drohten große Wassermassen, bis zur Belle-Roulotte hinschlagend, alle draußen Befindlichen hinwegzuschwemmen.
Auf den Rat des Herrn Sergius hin wurden denn auch einige Vorsichtsmaßregeln getroffen. Da während der ersten Novemberwoche reichlich Schnee gefallen war, fiel es nicht schwer, nach der dem Wellenschlage am meisten ausgesetzten Seite hin eine Art Damm auf der Eistafel herzustellen. Alle gingen ans Werk, und als der gehörig gepreßte und hartgestampfte Schnee in einer Höhe und Breite von vier bis fünf Fuß aufgeschichtet worden, bildete er einen Schutzwall, über dessen Kamm höchstens der Gischt herüberspritzte.
Während der Arbeit geschah es hin und wieder, daß Xander und Napoleone einander mit Schneeballen bewarfen und auch Clou-de-Girofles Rücken nicht verschonten. Aber wiewohl die Umstände nicht gerade zur Belustigung angethan waren, schalt Herr Cascabel nicht mit allzu strenger Stimme, bis eines schönen Tages ein Ball sein Ziel verfehlte und Herrn Sergius an den Hut flog.
»Wer war so erbärmlich ungeschickt?…« rief Herr Cascabel.
»Ich, Vater!« antwortete die kleine Napoleone ganz erschrocken.
»Schäme dich!« sagte Herr Cascabel. »Herr Sergius, entschuldigen Sie das schlimme Kind…«
»Lassen Sie doch, Freund Cascabel!« antwortete Herr Sergius. »Sie soll mir einen Kuß geben und damit ist die Sache erledigt!«
Und so geschah es.
Man hatte nicht nur auf einer Seite der Eistafel einen Damm errichtet; bald war die Belle-Roulotte allenthalben von einer Art Eiswall umgeben, welcher sie noch wirksamer zu schützen vermochte, während ihre bis an die Nabe eingegrabenen Räder ihr absolute Unbeweglichkeit sicherten. Der Wall reichte zur oberen Galerie hinan, aber ein schmaler Gang war an seiner Innenseite, rings um den Wagen, belassen worden. Das Gefährt glich einem inmitten von Eisbergen überwinternden Schiffe, dessen Rumpf durch einen Schneepanzer gegen Frost und Sturmwind geschützt ist. Wenn die Eistafel nicht zerschellte, so hatten die Schiffbrüchigen nichts mehr vom Wellenschlage zu befürchten, und so würde man vielleicht den Augenblick abwarten können, wo der arktische Winter endgültigen Besitz von diesen hyperboreischen Regionen ergriff.
Aber sobald dieser Augenblick kam, würde man nach dem Festlande aufbrechen, würde dem rollenden Hause, das seine Inwohner durch die ganze neue Welt geführt hatte, dem festen und sicheren Obdach der Familie den Rücken kehren müssen! Inmitten des Polarkreises verlassen, würde die Belle-Roulotte im Eistreiben der heißen Jahreszeit zu Grunde gehen!
Wenn Herr Cascabel, der doch sonst so philosophisch, so optimistisch veranlagt war, daran dachte, so hob er die Hände zum Himmel empor und verfluchte sein Mißgeschick; er maß sich die Schuld von all diesem Unglück bei und vergaß, daß es jenen Schurken zuzuschreiben sei, die ihn in den Schluchten der Sierra Nevada bestohlen hatten und also eigentlich für die ganze Situation verantwortlich waren!
Umsonst suchte Cornelia ihn, erst mit guten Worten, dann mit heftigem Tadel, seinen düstern Gedanken zu entreißen. Umsonst machten seine Kinder und sogar Clou ihren Anteil an jenem verhängnißvollen Entschlusse geltend. Umsonst wiederholten sie immer wieder, daß jener Reiseplan die Zustimmung der ganzen Familie gehabt habe! Umsonst suchten Herr Sergius und das »Vöglein« den untröstlichen Cäsar zu trösten!… Er wollte von nichts
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