Café Eden - Roman mit Rezepten
bei ihnen genau wusste, was sie tun würden. Sie würden ihr den Mund mit Seife auswaschen. Sie würde ernsthaft Ãrger kriegen, rasch bestraft werden, und dann wäre es vorbei. Sie war froh, dass er statt ihrer GroÃmutter Afton angerufen hatte. Ruth Douglass würde jetzt gerade im Pilgrim Restaurant arbeiten, und die Unterbrechung würde ihr nicht recht sein. Bei Afton würde Eden - nachdem sie ihr den Mund mit Seife ausgewaschen hatte - ein Sandwich mit Honig und Banane bekommen, und danach sehnte Eden sich im Moment, weil ihre Lunchbox lediglich die Reste einer kalten Matschpastete enthielt, die vom Abendessen am Tag zuvor übrig geblieben war.
Als Eden von dem Mückenstich an ihrem Knie aufblickte, sah sie Afton Lances Silhouette im Sonnenlicht, das durch die Doppeltüren am Ende des Ganges fiel, stehen. Sie schob den Kinderwagen in den Flur. Man sah sie nie ohne ein Kind an der Hand oder am Rockzipfel, und sie roch immer nach Wäschestärke und einem Hauch von Rosmarin. Ihre dicken, dunklen Haare waren auf dem Kopf ordentlich zu einem Dutt geschlungen. Sie sah solide aus in ihrem Alltagskleid und dem Kirchgangshut auf dem Kopf. Ihre festen Schritte hallten im stillen Flur. Sie blieb vor ihrer Nichte stehen und fragte nach Edens Vergehen.
»Ich habe die Lieder nicht für so schlimm gehalten«, verteidigte Eden sich und stand auf. »Ich dachte gar nicht, dass sie überhaupt schlimm sind.«
»Was du denkst, ist unerheblich. Was denkt der Direktor?«
Eden hörte nicht, was Afton mit Mr. Snow besprach. Drei ihrer Kinder waren schon durch diese Schule gegangen, Lucius, Bessie und Alma. Zwei besuchten sie noch, Junior und Sam, und das Kleinkind im Buggy, Constance, würde zu gegebener Zeit auch hier Schülerin sein. Afton war schwanger mit einem Sohn, Douglass, der sechs Monate später, im März 1927, zur Welt kommen würde, und das letzte ihrer acht Kinder würde 1931 geboren werden. Sie war auf ihre Art eine Legende. Das Gespräch mit Mr. Snow war kurz.
Eden und ihre Tante verlieÃen die Schule und gingen schweigend nebeneinander her, während die kleine Connie in ihrem Buggy vor sich hin plapperte. Für eine so redselige Frau wie Afton Lance war Schweigen ein sicherer Indikator für die Schwere des Vergehens. Als sie schon halb zu Hause waren, fragte Afton: »Was hält dein Vater von diesen Liedern, Eden?«
»Ich weià nicht. Kennt er sie überhaupt?«
Afton zuckte schnaubend mit den Schultern, eine so beredte und einzigartige Geste, daà jeder, der sie kannte, vom Kleinkind bis zum Kirchenältesten, sich wappnete.
Auch Eden wappnete sich, aber sie verteidigte ihren Vater trotzdem. »Pa denkt doch meistens über seine GroÃe Zeittafel nach.«
»Die bekommt er sowieso nie fertig. Wie sollte er auch? SchlieÃlich geht die Geschichte ja immer weiter.«
»Aber er arbeitet die ganze Zeit daran. Er geht fast jeden Abend nach der Arbeit in die Bibliothek. Die Karten kann er zu Hause zeichnen, aber lesen muss er in der Bibliothek.«
Er geht in die Bibliothek, dachte Afton, weil sie für ihn die Erinnerung an den Himmel ist. Als Junge und als junger Mann war Gideon ein vielversprechender Schüler gewesen, aber er hatte alle seine Chancen vertan, als er sich geweigert hatte, ein christliches College zu besuchen. Er könne doch seinen mormonischen Glauben nicht verraten, hatte er gesagt. Seine Seele. Nun, was tat er denn jetzt anderes? Er lebte mit Kitty in einer Trägheit, die beinahe schon Sünde war. Afton hätte ihren Bruder gerne bemitleidet, aber Mitleid ohne Handlung war einer Heiligen nicht würdig. Stattdessen kümmerte sie sich mit einer Energie um die Kinder ihres Bruders, die an Rache grenzte.
Edens GroÃmutter Ruth war über Gideons Schicksal und seine Frau genauso entsetzt. Ihrer stählernen Natur jedoch war Enthusiasmus fremd. Und BuÃe? In solchen Begriffen dachte Ruth nicht. Afton und Ruth waren in vieler Hinsicht unterschiedlich, auch was Kirche und Familie betraf: Ruth beugte sich schon lange nicht mehr den Regeln der Mormonen, und ihre groÃe Familie empfand sie als Last. Afton hingegen hielt sich, ohne zu fragen, an alle Lehren der Heiligen und suchte ihren Rat. Sie genoss den Lärm und den Tumult einer groÃen Familie. Einig war sie sich mit ihrer Mutter lediglich darin, dass dem unglücklichen Gideon und der gottlosen Kitty nicht mehr zu helfen war. Aber da
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