Cagot
Es war nur das Gefasel eines sterbenden alten Manns, dessen Hirn unter der bevorstehenden endgültigen Auflösung dem Ansturm der Unlogik nachgab. Es war traurig, aber wahr; Er war dement.
David nahm die Karte und steckte sie ein, dann beugte er sich vor und berührte die Hand seines Großvaters, aber der alte Mann reagierte nicht.
Mit einem Seufzer ging er in die heiße Sommernacht von Phoenix hinaus und stieg in seinen Leihwagen. Er fuhr auf der Stadtautobahn zu seinem Motel, wo er sich auf einem flimmernden mexikanischen Satellitensender einsam ein Fußballspiel anschaute und sich einen Sechserpack und eine Pizza reinzog.
Sein Großvater starb früh am nächsten Morgen. Eine Krankenschwester rief David im Motel an. Darauf telefonierte er sofort mit London und erzählte es seinen Freunden - er hatte das starke Bedürfnis, ein paar freundliche Stimmen zu hören. Dann meldete er sich in der Kanzlei, um seinen trauerfallbedingten »Urlaub« um ein paar Tage zu verlängern.
Weil es »bloß« Davids Großvater war, hörte sich sein Chef in London etwas verschnupft an. »Wir ersticken hier in Arbeit, David. Sehen Sie also gefälligst zu, dass Sie so bald wie möglich zurückkommen.«
Die Trauerfeier fand in einem seelenlosen Krematorium in einer anderen Trabantenstadt von Phoenix statt. Tempe. Und David war der einzige echte Trauernde im ganzen Gebäude. Außer ihm nahmen noch zwei Krankenschwestern aus dem Hospiz an der Feier teil, und das war’s. Sonst schien niemand eingeladen zu sein. David wusste bereits, dass er keine Familienangehörigen in Amerika - oder sonst irgendwo - hatte, aber seine Einsamkeit so unter die Nase gerieben zu bekommen, war richtig bitter - um nicht zu sagen, brutal. Aber daran konnte man nun einmal nichts ändern. Also saßen David und die zwei Krankenschwestern da, zusammen und doch allein, und verletzlich.
Die Zeremonie war ähnlich nüchtern. Auf den Wunsch seines Großvaters wurden keine Bibelstellen verlesen, sondern nur eine CD mit disharmonischer exotischer Gitarrenmusik gespielt, die wahrscheinlich sein Großvater selbst ausgesucht hatte.
Als das Stück zu Ende war, rollte der Sarg ohne Vorwarnung in die Flammen. David empfand das in seiner Schroffheit wie einen Schlag. Es war, als hätte es der alte Mann eilig, abzutreten, als könnte er es nicht erwarten, diesem Leben zu entfliehen - oder von einer Bürde befreit zu werden.
Am Nachmittag fuhr David auf der Suche nach einer besonders abgelegenen Stelle weit in die Wüste hinaus, als könnte er in dieser Ödnis seine Traurigkeit besser abschütteln. Unter einem ominösen Gewitterhimmel verstreute er die Asche zwischen Feigenkakteen und Dornensträuchern. Dann stand er etwa eine Minute da und beobachtete, wie sich die Asche verteilte, bevor er zu seinem Auto zurückging. Als er in die Stadt zurückfuhr, klatschten die ersten fetten Regentropfen auf die Windschutzscheibe; bis er in seinem Motel ankam, hatte sich ein veritables Wüstengewitter zusammengebraut - zwischen den schwarzen, bedrohlichen Wolken zuckten gezackte Blitze hin und her.
Sein Rückflug ging am nächsten Morgen. Er begann zu packen. Dann trällerte das Hoteltelefon. Seine Exfreundin vielleicht? Sie hatte in den vergangenen Tagen ab und zu angerufen: um David auf andere Gedanken zu bringen. Um eine gute Freundin zu sein.
David griff nach dem Telefon und meldete sich.
»Ja?«
Es war nicht seine Ex. Es war ein aufgekratzter amerikanischer Akzent.
»David Martinez? Hier Frank Antonescu …«
»Äh … hallo.«
»Ich bin der Anwalt Ihres Großvaters! Zuallererst, darf ich Ihnen sagen - es tut mir aufrichtig leid, von Ihrem Verlust zu hören.«
»Danke. Für Ihre … ahm … Anteilnahme. Aber … mein Großvater hatte einen Anwalt?«
Die Stimme bestätigte es ihm. Großvater hatte einen Anwalt gehabt. Überrascht schüttelte David den Kopf. Durch das Fenster seines Motelzimmers konnte er den Wüstenregen auf die Oberfläche des Motelswimmingpools prasseln sehen.
»Okay … Und worum geht es, bitte?«
»Also, da ist etwas, was Sie wissen sollten. Ich regle nämlich den Nachlass Ihres Großvaters.«
David lachte schallend. Sein Großvater hatte in einem überschuldeten alten Bungalow gewohnt; er hatte einen zwanzig Jahre alten Chevy gefahren und keine nennenswerten Vermögenswerte besessen. Und jetzt ein Nachlass? Aber sicher.
Doch das Lachen blieb David im Hals stecken, und plötzlich beschlichen ihn böse Vorahnungen. War das der Grund für die seltsame
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