Calibans Krieg
hatten Trompeten und Trommeln ihre Nützlichkeit für die Informationsübermittlung kämpfender Truppen schon seit Jahrhunderten verloren. Die Marsianer betrachteten diese Dinge nicht mit der gleichen Nostalgie wie die UN-Truppen. Das erste Mal hatte Bobbie so einen Weckruf in einem historischen Militärfilm gehört. Ganz egal, wie nervtötend das marsianische Gegenstück – eine Serie atonaler elektronisch erzeugte Fanfarenstöße – auch war, es konnte nie an den Schrecken heranreichen, mit dem die Jungs von der Erde erwachten.
Aber Bobbie war ja auch keine marsianische Marinesoldatin mehr.
»Ich bin keine Verräterin«, erklärte sie ihrem Abbild im Spiegel. Die gespiegelte Bobbie war nicht überzeugt.
Nach der dritten plärrenden Wiederholung des Trompetensignals piepste ihr Handterminal einmal und verfiel in brütendes Schweigen. Mittlerweile hielt sie sich schon eine halbe Stunde an der Zahnbürste fest. Die Zahnpasta hatte bereits eine harte Haut bekommen. Unter warmem Wasser löste sie die Paste wieder auf und begann endlich, sich die Zähne zu putzen.
»Ich bin keine Verräterin«, nuschelte sie beim Zähneputzen. »Auf keinen Fall.«
Nicht einmal im Bad ihres von der UN gestellten Apartments, während sie sich mit einer UN-Zahnbürste die Zähne und mit UN-Wasser das Waschbecken reinigte. Nicht einmal, während sie die gute marsianische Zahnbürste festhielt und schrubbte, bis sie Zahnfleischbluten bekam.
»Nein«, sagte sie noch einmal und warnte die Bobbie im Spiegel, ihr ja nicht zu widersprechen.
Sie legte die Zahnbürste in den kleinen Kulturbeutel und nahm ihn ins Wohnzimmer mit, um ihn in den Seesack zu stecken. Alles, was sie besaß, blieb in dem Beutel. Wenn ihre Vorgesetzten sie riefen, musste sie schnell reagieren, und der Ruf würde ganz bestimmt kommen. Ihr Terminal würde eine Vorrangnachricht empfangen, die mit dem blinkenden roten und grauen Rahmen der marsianischen Raummarine hervorgehoben wäre. Der Befehl würde lauten, sofort zu ihrer Einheit zurückzukehren. Und dass sie immer noch eine von ihnen war.
Dass sie nicht als Verräterin galt, obwohl sie auf der Erde geblieben war.
Sie rückte die Uniform zurecht, schob das verstummte Terminal in die Tasche und überprüfte im Spiegel neben der Tür ihre Frisur. Sie hatte sich einen straffen Knoten gebunden, der sogar die Gesichtshaut spannte. Kein einziges Haar war diesem strengen Regiment entkommen.
»Ich bin keine Verräterin«, erklärte sie dem Spiegel. Die Bobbie im vorderen Spiegel schien dieser Behauptung viel eher zuzustimmen als die im Bad. »So sieht es nämlich aus.« Als sie ging, knallte sie hinter sich die Tür zu.
Draußen sprang sie auf eins der kleinen Elektroräder, die innerhalb des UN-Campus jedem zur Verfügung standen. Drei Minuten vor fünf betrat sie das Büro. Soren war schon da. Ganz egal, wann sie kam, Soren war immer vor ihr da. Entweder er schlief am Schreibtisch, oder er spionierte sie aus und wusste, auf welche Uhrzeit sie jeden Morgen ihren Wecker einstellte.
»Bobbie.« Er tat nicht einmal so, als könnte sein Lächeln echt sein.
Sie antwortete nicht, sondern nickte nur und ließ sich auf ihren Stuhl fallen. Ein Blick auf die abgedunkelten Fenster in Avasaralas Büro verriet ihr, dass die alte Dame noch nicht eingetroffen war. Bobbie rief ihre Aufgabenliste auf den Bildschirm.
»Sie hat mir aufgetragen, noch eine Menge Leute hinzuzufügen.« Soren meinte damit die Liste der Leute, die Bobbie in ihrer neuen Rolle als marsianischer Verbindungsoffizier anrufen sollte. »Sie will unbedingt eine frühe Fassung der marsianischen Stellungnahme zu Ganymed bekommen. Das ist heute Ihre wichtigste Aufgabe. In Ordnung?«
»Warum?«, antwortete Bobbie. »Die offizielle Verlautbarung ist gestern herausgekommen. Wir haben sie längst gelesen.«
»Bobbie«, erwiderte Soren mit einem Seufzen, das verriet, wie leid er es war, ihr so simple Dinge zu erklären, während er gleichzeitig grinste, als machte es ihm überhaupt nichts aus. »So wird dieses Spiel eben gespielt. Der Mars gibt eine Erklärung heraus und verurteilt unsere Aktionen. Wir benutzen die Hintertür und finden einen frühen Entwurf. Wenn er unfreundlicher war als die veröffentlichte Version, hat jemand im diplomatischen Corps empfohlen, den Ton zu mäßigen. Das heißt, dass sie eine Eskalation vermeiden wollen. Wenn der Entwurf anfangs milder war, heißt das, sie eskalieren absichtlich, um eine Reaktion zu provozieren.«
»Aber da sie
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