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Calibans Krieg

Calibans Krieg

Titel: Calibans Krieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James S. A. Corey
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einen Mord melden«, sagte sie mit bebender Stimme.
    Der Wachmann nickte, weder überrascht noch ungläubig. Da fiel es Prax wieder ein.
    »Er hat sie schon vorher abgeholt«, sagte Prax. »Er hat sie abgeholt, ehe der Angriff geschah.«
    »Drei Männer haben bei mir eingebrochen«, berichtete die Frau. »Sie … mein Bruder war bei mir und wollte sie aufhalten.«
    »Wann ist dies geschehen, Madam?«
    »Vor dem Angriff«, beharrte Prax.
    »Vor zwei Stunden«, erklärte die Frau. »Auf Ebene vier. Blauer Sektor. Apartment 1453.«
    »In Ordnung, Madam. Begleiten Sie mich bitte zu dem Schreibtisch dort drüben. Sie müssen Anzeige erstatten.«
    »Mein Bruder ist tot. Sie haben ihn erschossen.«
    »Das tut mir sehr leid, Madam. Bitte füllen Sie das Anzeigeformular aus, damit wir die Schuldigen fassen können.«
    Prax sah ihnen nach, als sie sich entfernten. Er kehrte der Schlange traumatisierter, verzweifelter Menschen, die nacheinander um Hilfe, um Gerechtigkeit und Schutz der Gesetzeshüter baten, den Rücken. Wut flammte in ihm auf und erstarb flackernd. Er brauchte Hilfe, aber hier gab es keine Hilfe. Er und Mei waren Sandkörnchen im Weltraum. Völlig unbedeutend.
    Der Wachmann war wieder da und redete mit einer großen hübschen Frau, die etwas Schreckliches zu berichten hatte. Prax hatte gar nicht bemerkt, dass er zurückgekehrt war, und den Anfang der Geschichte der Frau nicht mitbekommen. Er hatte Ausfälle. Das war nicht gut.
    Der kleine Teil seines Gehirns, der noch einwandfrei funktionierte, flüsterte ihm zu, dass sich niemand um Mei kümmern würde, wenn er starb. Dann wäre sie endgültig verloren. Im Flüsterton erfuhr er, dass er etwas zu essen brauchte und schon seit Tagen nichts mehr gegessen hatte. Dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb.
    »Ich muss zum Hilfszentrum«, sagte er laut. Die Frau und der Wachmann hörten es anscheinend nicht. »Trotzdem vielen Dank.«
    Da ihm jetzt sein eigener Zustand bewusst geworden war, empfand Prax zugleich Erstaunen und Schrecken. Er schlurfte nur noch, die Arme waren schwach und taten weh, obwohl er sich nicht erinnern konnte, irgendeine Arbeit verrichtet zu haben, welche die Schmerzen rechtfertigte. Er hatte nichts Schweres gehoben und war nicht geklettert. In der letzten Zeit hatte er nicht einmal mehr seine täglichen Übungen gemacht. Er wusste nicht mehr, wann er das letzte Mal etwas gegessen hatte. An das Beben nach dem Absturz des Spiegels und die Vernichtung seiner Kuppel erinnerte er sich noch. Es kam ihm so vor, als sei dies in einem früheren Leben geschehen. Seine Persönlichkeit löste sich auf.
    Auf den Korridoren vor dem Hilfszentrum herrschte ein Gedränge wie im Schlachthof. Männer und Frauen, viele von ihnen wirkten stärker und gesünder als er, drängelten sich nach vorn, sodass selbst der weiteste Raum eng erschien. Während er sich dem Hafen näherte, nahm das Schwindelgefühl zu. Hier war die Luft beinahe warm, aufgeheizt von den vielen Körpern. Es stank nach übersäuertem Atem. Der Atem der Heiligen, so hatte seine Mutter es genannt. Der Geruch zerfallender Proteine, wenn der Körper seine eigenen Muskeln verzehrte, um zu überleben. Er fragte sich, wie viele Menschen in der Menge überhaupt wussten, was dieser Geruch zu bedeuten hatte.
    Die Menschen schrien und rempelten einander an. Die Menge wogte hin und her. So stellte er sich die Wellen an einem Strand vor.
    »Öffnet die Türen, und lasst uns selbst nachsehen!«, rief eine Frau weit vor ihm.
    Oh, dachte Prax. Lebensmittelunruhen.
    Er drängte sich zum Rand und wollte entkommen. Nur fort von hier. Weiter vorn riefen die Leute. Hinter ihm drängelten sie. In der Decke glühten die Reihen weißer und goldener LEDs. Er streckte die Hand aus, als er eine Wand erreichte. Irgendwo brach der Damm, und die Menge stürzte unvermittelt vorwärts. Beinahe hätte ihn der Strom der Menschen mitgerissen. Er nahm die Hand nicht von der Wand. Schließlich ließ der Ansturm nach, und Prax taumelte weiter. Die Türen der Frachthalle standen offen. Daneben entdeckte Prax ein bekanntes Gesicht, konnte es aber nicht einordnen. Vielleicht jemand aus dem Labor? Der Mann hatte kräftige Knochen und war muskulös. Ein Erder. Vielleicht jemand, den er auf seinen Wanderungen durch die untergehende Station getroffen hatte. Ob der Mann irgendwo Essen ergattern wollte? Nein, er wirkte gut genährt. Die Wangen waren überhaupt nicht eingefallen. Er war wie ein Freund und doch ein Fremder. Jemand, den Prax kannte

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