Calibans Krieg
benachbarte Abschnitte ebenfalls leiden. Die wenigen Menschen, die hier unterwegs waren, hielten die Blicke gesenkt oder starrten einander mit offener Feindseligkeit an. Holden wünschte, er könnte seine Waffe offen tragen, statt sie in einem Halfter im Kreuz zu verstecken.
»Wer ist unser Kontaktmann?«, fragte Naomi leise.
»Hm?«
»Ich nehme doch an, dass Fred hier Leute eingesetzt hat«, antwortete sie halblaut, während sie lächelnd einer Gruppe von Männern zunickte. Alle trugen die Waffen offen, überwiegend Messer und Keulen. Sie starrten neugierig zurück. Holden schob die Hand unter die Jacke, um jederzeit die Waffe ziehen zu können, doch die Männer gingen weiter und warfen ihnen nur noch ein paar Blicke zu, ehe sie um eine Ecke bogen und verschwanden.
»Hat er denn nicht dafür gesorgt, dass wir uns mit jemandem treffen?«, fragte Naomi mit normaler Stimme.
»Er hat mir ein paar Namen genannt, aber die Kommunikation mit diesem Mond war immer wieder unterbrochen, und deshalb konnte er nicht …«
Ein lauter Knall, der irgendwo im Hafen ertönte, unterbrach Holden. Auf die Explosion folgte ein Gebrüll, das nach und nach lauten Rufen wich. Die wenigen Menschen, die sich in der Nähe auf dem Korridor befanden, rannten los – einige zum Lärm hin, die meisten in die entgegengesetzte Richtung.
»Meinst du, wir sollten …« Naomi betrachtete die Menschen, die zur Quelle des Lärms liefen.
»Wir sind hergekommen, um herauszufinden, was hier vor sich geht«, antwortete Holden. »Also lass uns nachsehen.«
Kurz danach hatten sie sich in den gewundenen Korridoren von Ganymeds Raumhafen verlaufen, doch das spielte keine Rolle, solange sie sich nur dem Lärm näherten und in die gleiche Richtung liefen wie die rasch anschwellende Masse der rennenden Menschen. Ein großer kräftiger Mann, der sich die roten Haare zu abstehenden Stacheln frisiert hatte, lief eine Weile neben ihnen. In jeder Hand hatte er ein schwarzes Metallrohr. Er grinste Naomi an und wollte ihr eine seiner Waffen überlassen. Sie winkte ab.
»Das wird auch Zeit, verdammt«, rief er mit einem Akzent, den Holden nicht einordnen konnte. Nachdem Naomi abgelehnt hatte, bot er Holden das Rohr an.
»Was ist denn los?«, fragte Holden, während er die Keule annahm.
»Die verdammten Dreckskerle klauen die Lebensmittel, also muss man sehen, dass man was abbekommt, was? Verdammt auch, ihr Wichser!«
Der stachlige Rothaarige heulte und schwenkte die Keule in der Luft, dann rannte er schneller und verschwand in der Menge. Naomi lachte und heulte ihm hinterher. Als Holden ihr einen fragenden Blick zuwarf, lächelte sie. »Das ist ansteckend.«
Hinter einer Gangbiegung erreichten sie ein weiteres großes Lagerhaus, das demjenigen, das die Supitayaporns kontrollierten, fast aufs Haar glich. Der einzige Unterschied bestand darin, dass dieser Raum voller wütender Menschen war, die zur Ladebucht drängten. Die Tore des Docks waren verschlossen, und eine kleine Gruppe von Wachleuten des Hafens versuchte, die Menge zurückzuhalten. Als Holden eintraf, reichten die Taser und Schockstäbe der Wachleute noch aus, um die Menge unter Kontrolle zu halten, aber die Spannung stieg, der Zorn der Menschen nahm zu, und Holden erkannte, dass es nicht mehr lange gut gehen würde.
Direkt hinter der vordersten Reihe der Wachleute mit den nichttödlichen Waffen stand eine kleine Gruppe von Männern in dunklen Anzügen und guten Schuhen. Sie trugen ihre Gewehre mit der Haltung von Kriegern, die nur noch auf den Schießbefehl warteten.
Das waren vermutlich die Wachleute der betroffenen Firma.
Als er den Raum überblickte, begriff Holden, was dort vor sich ging. Hinter der geschlossenen Tür der Frachthalle hatte einer der letzten Firmenfrachter angedockt, die Lebensmittel von Ganymed exportierten.
Und die Menge war hungrig.
Holden erinnerte sich an das Casino auf Eros, das von Sicherheitskräften abgeriegelt worden war. Er erinnerte sich an die zornige Meute, die von Männern mit Gewehren in Schach gehalten wurde. Er erinnerte sich an die Schreie und den Geruch von Blut und Schießpulver. Ohne nachzudenken, drängte er sich bis ganz nach vorne durch. Naomi folgte ihm und murmelte Entschuldigungen. Schließlich packte sie ihn am Arm und hielt ihn auf.
»Willst du gerade wieder etwas besonders Dummes tun?«, fragte sie ihn.
»Ich will verhindern, dass diese Leute erschossen werden, nur weil sie hungrig sind«, antwortete er. Sogar er selbst zuckte zusammen, weil
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