Callgirl
und Doc-Martens-Stiefel. Ihr Haar war raspelkurz geschnitten, und sie schien gegen die Welt antreten zu wollen, als ob diese sie persönlich beleidigt hätte. Was ja vielleicht auch stimmte.
»Es ist falsch«, erklärte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Man darf Frauen nicht vorschreiben, dass sie sich verhüllen müssen, so als wäre es irgendwie ihre Schuld, dass die Männer nicht in der Lage sind, ihre Finger bei sich zu behalten. Was ist das überhaupt für ein patriarchalischer Schwachsinn hier!«
»Es ist ihr Land«, sagte ich sanft.
Daraufhin kam sie fast aus ihrem Stuhl hoch. »Ach so, wenn du irgendwo hinfährst, wo man Menschen ohne ordentliches Gerichtsverfahren hinrichtet, sagst du einfach achselzuckend, sie dürfen das tun, weil es ihr Land ist, oder was?!«
Eine Frau vom anderen Ende des Raums sagte leise: »Yeah! In einem Land wie Texas, zum Beispiel.«
Doc Martens ließ sich nicht abschrecken. »Also, wo ziehst du die Grenze? Hä?«
Ich antwortete so ruhig wie möglich: »Man hat die Wahl. Man muss nicht in ein Land reisen, dessen Sitten und Gebräuche man anstößig oder erniedrigend findet. Aber wenn man sich dafür entscheidet, in dieses Land zu reisen, dann hat man sich meiner Meinung nach auch dafür entschieden, dessen Sitten und Gebräuche zu akzeptieren oder sie zumindest anzuerkennen und sich daran zu halten. Man muss sie nicht mögen. Und man muss nicht dorthin reisen.«
Vor meinem inneren Auge blitzte die Erinnerung an mein Studienjahr in Frankreich auf: Ich erinnerte mich, wie peinlich es mir immer war, wenn grelle amerikanische Touristen mit ihrer breiten Aussprache in mein Stammcafé platzten und lautstark nach Hamburgern verlangten. Mit Ketschup. Ich weiß noch, dass ich mich fragte, warum sie sich überhaupt die Mühe gemacht hatten, Cincinnati oder Denver zu verlassen.
Ich räusperte mich. »Ich habe zwei Jahre in Tunesien gelebt«, erzählte ich der Klasse. »Ich habe in der Öffentlichkeit einen Schleier getragen und mir einen Ehering an den linken Ringfinger gesteckt. Ich bin durchs ganze Land gereist und habe keine einzige unangenehme Erfahrung gemacht.« Ich hob die Hand, um Doc Martens, die bereits schäumte und kurz vor der Explosion stand, noch einen Moment Einhalt zu gebieten. »Und nein, mir ist nicht wohl dabei, wenn eine Frau so tun muss, als gehöre sie zu einem Mann, um sich vor Übergriffen zu schützen. Deshalb lebe ich dort nicht. Aber wenn ich auf Teufel komm raus versucht hätte, meine eigenen Überzeugungen und meine eigene Lebensweise durchzusetzen, dann hätte ich meinen Aufenthalt dort weit weniger genießen können. Und wer als Reisender erwartet, dass sich die Menschen im Gastland auf die Ansichten, Bedürfnisse und Bequemlichkeitsstandards der Touristen einstellen, der sollte sich meiner Ansicht nach die Reise ohnehin sparen.« Ich schaute die Frau mit den Doc Martens an. »Dann können wir gleich in Cambridge bleiben, wo wir anziehen können, was uns gefällt, und wo wir die Möglichkeit haben, Männer wegen sexueller Belästigung anzuzeigen.«
Die Atmosphäre war dann eher frostig. Aber wenn wir alle so super kultiviert sind, dass wir begeistert ausländische Konzepte wie Feng Shui übernehmen oder Sushi und Hummus essen und modische Ethnokleidung tragen, dann sind wir wirklich Heuchler, wenn wir bei Überzeugungssystemen die Grenze ziehen wollen. Es ist genau das Gleiche wie bei den amerikanischen Touristen mittleren Alters und ihren Hamburgern. Wozu das Ganze, wenn man gar kein Interesse an der fremden Kultur hat?
Und das muss ich mir auch selbst hinter die Ohren schreiben. Das erkannte ich am nächsten Abend, als ich in einem Hotelflur darauf wartete, dass der Gentleman von Zimmer 148 die Tür öffnen und mich hereinbitten würde. Mir wäre es am liebsten, wenn alle meine Kunden sich genau so verhielten, wie ein Mann sich
meiner Meinung nach verhalten sollte. Aber das heißt ja im Grunde auch nichts anderes, als dass ich nur meine eigenen Bedürfnisse und Wertvorstellungen und vorgefassten Meinungen zulasse. Ich bin eine Reisende, die für eine Stunde die Welt eines anderen Menschen besucht. Welche Sitten und Gebräuche herrschen in seiner Welt? Welche Tabus? Wie kann ich etwas über den anderen erfahren und mich so verhalten, dass mein Besuch ihm Freude bereitet?
Am folgenden Abend nahm ich mir frei. Ich musste am nächsten Tag meinen Kurs »Über Tod und Sterben« unterrichten und wollte eine schriftliche Arbeit
Weitere Kostenlose Bücher