Callgirl
die Sonne strahlt einem blendend hell ins Gesicht, und die Temperaturen erreichen mit schöner Regelmäßigkeit 32 Grad.
Ich hatte die Noten für das Wintersemester Ende Mai eingereicht, und im Juni fingen die neuen Sommerkurse an.
Drei Kurse, dachte ich erleichtert. Das bedeutete nicht, dass ich ohne Peach auskommen konnte, aber es bedeutete (hoffentlich), dass ich den Schwerpunkt dort setzen konnte, wo er hingehörte, nämlich eher im Klassen- als im Schlafzimmer.
Abgesehen davon, dass Sommerkurse großen Spaß machen, sind sie für aufstrebende Hochschullehrer auch sehr wichtig, weil der Lehrplan überall ein wenig gelockert wird. Im Sommer wollen die Studenten keine Differenzialrechnung lernen. Im Sommer wollen sie ihre Wahlfächer belegen, etwas Interessantes und Unkonventionelles lernen. Deshalb sind die meisten Colleges im Sommer offener für Themenvorschläge, die im allgemeinen Lehrplan nicht unbedingt vorkommen.
Ich unterrichtete die gleichen Seminare wie im Frühjahr, »Anstaltsleben« und »Über Tod und Sterben«. Außerdem hielt ich am Donnerstagabend noch einen Kursus am Boston Center for
Adult Education, in dem ich Frauen, die allein durch die Welt reisen wollten, Tipps und Anregungen für mögliche Reiseziele gab. Während des Studiums hatte ich zusammen mit einer Freundin, die genauso reiselustig war wie ich, ein Buch über allein reisende Frauen geschrieben, und obwohl ich seitdem meistens mit kleinem Geldbeutel verreist war, konnte ich einige hilfreiche Informationen vermitteln. Darüber hinaus machte es einfach einen Riesenspaß, die Gruppe zu unterrichten.
Peach war leider alles andere als erbaut von meinem Kursus über Weltreisen. »Was ist, wenn ich dich brauche?«, fragte sie verstimmt. »Donnerstags ist immer viel los!«
Ich zuckte die Achseln. »Es ist doch nur einmal pro Woche, Peach. Ich arbeite doch sowieso nicht jeden Abend.«
Sie ließ sich nicht beirren. »Wenn einer von den Stammkunden anruft«, warnte sie düster, »muss ich ihn woanders hinschicken.«
Mittlerweile hatte ich meine eigenen Stammkunden. Und ich kann nur sagen, dass Stammkunden eine sehr gute Sache sind. Der Gedanke, einen zu verlieren, reichte aus, um mich ins Grübeln zu bringen … Nun ja, genau genommen, hätte es mich ins Grübeln gebracht, wenn ich nicht genau gewusst hätte, dass Stammkunden auch ziemlich wankelmütig sein können. Eine sichere Sache ist eben erst dann eine sichere Sache, wenn du das Geld in der Tasche hast und auf dem Weg zur Tür bist. Falls ich diese Lektion in meinem bisherigen Leben noch nicht gelernt hatte, lernte ich sie spätestens bei Peach.
Es war auch nicht so, dass ich meine Stammkunden abgöttisch liebte, jedenfalls bestimmt nicht alle. Doch sie haben den Vorteil, dass sie etwas Berechenbares in einem Meer voller Unwägbarkeiten darstellen.
Zu den irritierenden Aspekten einer Tätigkeit als Callgirl gehört, dass man oft das Gefühl hat, ein Blind Date nach dem anderen abzuwickeln. Du weißt nie, wer oder was auf der anderen Seite der Tür auf dich wartet. Diese Ungewissheit kann mitunter
ein bisschen nervenaufreibend sein. Genau genommen ist sie sogar wahnsinnig nervenaufreibend.
Außerdem musst du die ganze Zeit über total gut drauf sein. Rückblickend betrachtet ist die Teilnahme an einem Schauspielkurs vielleicht die beste Vorbereitung für diesen Job, denn sobald sich die Tür öffnet, setzt du alles daran, dass beim Abschied 200 Dollar in deiner Tasche stecken und du außerdem einen Kunden gewonnen hast, der von nun an regelmäßig nach dir fragt. Und dafür musst du dich ordentlich ins Zeug legen. Dein Bestes geben. Dich immer wieder überzeugend verkaufen. Genau so sein, wie er dich haben will. Gestatten, mein Name ist Chamäleon.
Stammkunden bedeuten eine Erholungspause von dieser Ungewissheit, von dieser Angespanntheit, die so ähnlich ist wie Angst, aber trotzdem irgendwie anders: Es ist das Gefühl, ständig auf der Bühne zu stehen, um zu verkaufen, zu überzeugen, zu gefallen … und gleichzeitig auf die innere Stimme zu hören, die dich vor Gefahren warnt.
Stammkunden bedeuten, dass du dich ein bisschen entspannen kannst. Du weißt, was dich bei ihnen erwartet, was ihnen gefällt und nicht gefällt, und wie der Besuch aller Wahrscheinlichkeit nach verlaufen wird.
Das Bekannte ist angenehm.
Im Wesentlichen könnte man also sagen, dass wir jedes Mal, wenn wir auf eine neue Situation, auf einen neuen Kunden treffen, ein bestimmtes Ziel haben. Das Ziel ist
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