Callgirl
lassen, ein dauerhaftes Zeugnis meiner Tätigkeit zu hinterlassen.
Ich sah Sophie mitleidig an. Ich hätte es nicht einmal für sie getan, aber in jenem Moment wünschte ich, ich hätte die Kamera. Ich wünschte, ich hätte die Antworten, irgendetwas, das den Schmerz aus ihrem Gesicht, aus ihrer Stimme vertrieb. So ein
Film wäre vermutlich sogar sehr gut gelaufen. Erstaunlich viele hart gesottene Rassisten haben überhaupt nichts gegen farbige Frauen … in ihrem Bett.
Wir schauten eine Weile schweigend dem Krimi zu, dann sagte Sophie etwas über den schwer verständlichen skandinavischen Akzent von Frances McDormand, und ich sagte etwas über die skandinavischen Siedlungen in Minnesota und Nord- und Süddakota, und danach lief das Gespräch zwischen uns beiden endlich wieder wie von allein. Wir waren so in unsere Unterhaltung vertieft, dass wir gar nichts mehr von dem Schnee und den Akzenten und den recht scheußlichen Morden im Film mitbekamen. Die Worte sprudelten nur so aus uns heraus, während wir zusammensaßen und miteinander redeten wie immer. Jedenfalls fast so wie immer. (Ähnlich genug, wie die miese Ratte zu sagen pflegte, um durch jede Polizeikontrolle zu kommen.)
Erst als ich wieder ging, fielen mir die fehlenden Möbelstücke auf. Als ich hereinkam, war ich wahrscheinlich zu sehr damit beschäftigt gewesen, meinen Schock über Sophies Anblick zu verdauen.
Sie tat es mit einem Achselzucken ab. »Ich hab so’ne Art Garagenflohmarkt veranstaltet«, erklärte sie. »Die Wohnung war viel zu voll gestopft.«
Mein Blick wanderte durch den kahlen Flur und das leere Wohnzimmer, und mir fiel keine passende Antwort ein. Mir fiel überhaupt keine Antwort ein, um die Wahrheit zu sagen. Der Kirschholzschrank in der Ecke … Die schwere Anrichte mit den vielen feinen Schnitzereien … »Was ist mit deinem Schreibtisch?«, fragte ich schließlich. »Brauchst du den nicht, wenn du von zu Hause aus arbeitest?«
Und dann erzählte sie mir, was geschehen war.
Nach einer unruhigen Nacht, in der ich zwischen wirren Träumen und angespanntem Wachsein mit dem Problem gerungen
hatte, lud ich am nächsten Tag einen Kollegen vom College zum Lunch ein. »Ich will ehrlich zu dir sein«, sagte ich am Telefon. »Es klingt vielleicht rassistisch, aber ich möchte mit dir sprechen, weil du Chinese bist, weil ich Hilfe brauche und du der einzige Chinese bist, den ich kenne.«
Henry war nicht beleidigt. Er war freundlich und außerordentlich offen.
»Für ein Mädchen in einer Situation, wie du sie beschrieben hast«, sagte er einleitend, »gilt vor allem, dass sie in China keine Chance mehr hätte. Wenn sie dort geblieben wäre, hätte man ihr niemals eine verantwortungsvolle Position gegeben, sie niemals respektiert. Und sie würde es auch gar nicht erwarten. Ihre Schuldgefühle würden sie zurückhalten, weil sie Schande über ihre Familie gebracht hat.«
Ich starrte ihn an. » Sie hat Schande über ihre Familie gebracht? Ihr Vater hat sie missbraucht, Henry. Die Schande geht ja wohl auf sein Konto.« Aber natürlich sah die Wirklichkeit anders aus; sogar in unserer vermeintlich liberalen und gleichberechtigten Gesellschaft gibt man in Fällen von Vergewaltigung, häuslicher Gewalt, sexuellem Missbrauch oder Inzest sehr häufig dem Opfer die Schuld. Warum sollte das in China anders sein?
Henry schürzte die Lippen und dachte darüber nach. »Vielleicht wäre das so, wenn wir unsere Wertmaßstäbe am Verhalten ausrichten würden. Aber es gibt andere, wichtigere Maßstäbe. Deine Freundin hat anderen Leuten von der Sache erzählt – keine Einzelheiten, sagst du, aber trotzdem genug, um einen Schatten auf den Familiennamen zu werfen. Sie hat den Platz an der Pekinger Universität nicht angenommen – die Pekinger Universität ist sehr angesehen, sie ist sozusagen unser Harvard. Damit hat sie ihre Familie und wichtige Leute beleidigt. Möglicherweise Parteifunktionäre, die ihr zu diesem Platz verholfen haben. Es muss zahlreiche Gespräche gegeben haben, viele Verhandlungen,
bevor man einem Mädchen wie ihr diesen Platz angeboten hat. Sie muss eine glänzende Schülerin gewesen sein. Jeder Schüler in China ist fleißig, aber nur ganz wenige kommen an die Pekinger Universität. Man sagt, das schaffen nur die Besten der Besten, und man sagt, dass du dafür einen Gönner brauchst, einen Menschen, der bereit ist – wie drückt man das aus -, sich für dich aus dem Fenster zu lehnen. Jemand hat sich für sie eingesetzt,
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