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Callgirl

Callgirl

Titel: Callgirl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Angell
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akzeptieren, dass ich die Zwänge und Restriktionen, denen sie ausgesetzt war, nie begreifen werde. Aber sie
war verantwortlich für dieses Kind, Fleisch von ihrem Fleisch, Blut von ihrem Blut. Ich frage mich, ob sie vor Schmerz geweint hat, als dieses Kind vergewaltigt wurde.
    Ich stelle mir auch den Vater vor, aber ich kann nicht rational an ihn denken. Die Gedanken sind mit zu viel Zorn durchsetzt.
    Es ist merkwürdig: Gestützt auf die (möglicherweise nicht sehr stabile) Wissensgrundlage aus meinem Psychologiestudium, hatte ich angenommen, dass viele Callgirls Inzest- oder Missbrauchsopfer seien. Ich stellte mir diese Frauen vor, wie sie verzweifelt versuchten, bei älteren Kunden die Liebe und Anerkennung zu finden, die sie in ihren Ursprungsfamilien nie erfahren hatten. Oder ich stellte mir vor, dass sie ihre Position ausnutzten, um sich an den Männern (an allen Männern, an Männern als Spezies) zu rächen und sie für das zu bestrafen, was man ihnen angetan hatte.
    Wie sich herausstellte, hatte ich mich geirrt. Entweder ich lag mit meinen Hypothesen total daneben, oder Peach war sehr erfolgreich darin, Probleme zu erkennen und dafür zu sorgen, dass Frauen, die man verletzt hatte, durch die Arbeit bei ihr nicht noch mehr verletzt wurden. Ich glaube, dass Letzteres zutraf. Peach hatte ihre eigenen Gespenster der Vergangenheit, die sie zum Teil unsagbar quälten. Sie wollte auf keinen Fall dazu beitragen, derartige Gespenster bei anderen zu verstärken.
    Die Franzosen sprechen von den »Reisenden in Sachen Inneres«, womit zum Ausdruck gebracht wird, dass oft die ergiebigsten und interessantesten Forschungsreisen in die eigene Seele führen. Sophie erfüllte diesen Begriff für mich mit Leben. Sie verkörperte ihn. Sie war ständig bemüht, ihre eigenen Grenzen zu erweitern und genau zu überprüfen, wo sie verliefen.
    Ich weiß nicht, was sie in ihrer Muttersprache las. Aber ich sah die englischen Bücher, denen sie ihre Zeit, Energie und Leidenschaft widmete. Es waren sonderbare Kombinationen dabei, die aber auf ganz eigene Weise wieder einen Sinn ergaben, wenn
man länger darüber nachdachte: C. G. Jung und Anne Rice, Sartre und Mary Shelley, Françoise Sagan und Dostojewski, Calvino und Hemingway.
    Sophie diskutierte auch über ihre Lektüre, aber nicht so, wie der Rest von uns über Bücher diskutiert. Wir betrachten Romane oder Erzählungen im Hinblick auf Handlungen, Charaktere, Dialoge. Das interessierte Sophie nicht. Sie folgte eher esoterischen Pfaden, suchte nach angedeuteten Wahrheiten, nach halb enthüllten Antworten. Sie lebte im Innern der Worte, verfolgte die Geografie der seelischen Fortschritte, ermittelte unfehlbar den präzisen Moment, in dem der Autor nicht fähig gewesen war, den einen zusätzlichen Schritt zu tun, der sein Werk in etwas Größeres, Bedeutenderes, Authentischeres verwandelt hätte. Darüber sprach Sophie sehr viel. Sie war fast ein bisschen besessen von dem Thema, dass wir alle zu schnell bereit sind, uns zufrieden zu geben, das Durchschnittliche zu akzeptieren, weil wir nicht den Mut aufbringen, unsere Überzeugungen, unser Selbst, unsere Seele aufs Spiel zu setzen und uns selbst in Frage zu stellen, um uns weiterzuentwickeln.
    Sie schenkte mir einmal einen Tontopf, ein einfaches zylindrisches Gefäß, der mit chinesischen Schriftzeichen bedeckt war. »Das ist ein Gedicht, ein sehr schönes Gedicht«, sagte sie. »Von einem Mann, der als Politiker und Literat großen Ruhm und Erfolg genossen hatte, dann aber in Ungnade fiel und ins Gefängnis kam. Er schrieb dieses Gedicht im Gefängnis. Es ist erfüllt von Visionen, von Gedanken, die er vorher nie gehabt hätte.« Das erinnerte mich an meine Zeit in der Konfessionsschule, als ich bei den großen Denkern der Kirchengeschichte nach Antworten auf meine rastlosen Fragen gesucht hatte. Ich hatte keine gefunden, hatte tatsächlich schon beinahe aufgegeben, als ich auf Thomas von Aquin stieß – was an sich schon merkwürdig schien, weil er ja eher zu den kühlen, rationalen Köpfen unter den Kirchenvätern zählte. »Ich habe Dinge gesehen«, schrieb er in einem
Brief an einen seinen Schüler, »die all meine Schriften wie Stroh erscheinen lassen«.
    Ich denke, Sophie hatte einen flüchtigen Blick auf diese Dinge erhascht. Oder zumindest gewusst, dass sie irgendwo existieren, was mehr ist, als die meisten von uns auf unserem Lebensweg erfahren.
    Den Topf habe ich immer noch. Er steht heute auf meinem Schreibtisch, gefüllt

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