Callgirl
mit einem Sammelsurium von komischen Stiften und verblassten Bändern. Manchmal schaue ich auf die kalligrafischen Zeichen und frage mich, welchen Worten sie wohl Flügel verleihen, welche Träume sie freisetzen und welchen Zauber sie einst auf Sophie ausübten.
Es gab so wenig in ihrer Wohnung, das auf ihre chinesische Herkunft schließen ließ. Über ihrem Bett eine Lampe aus Reispapier mit zarten Tuschezeichen darauf. Essstäbchen in der Küchenschublade, ein Reiskochtopf – typische Alltagsgegenstände, die man überall hätte finden können. In einem Schrank bewahrte sie einen chinesischen Stofflöwen auf. Er war ein Geschenk von einem früheren Lover und stammte aus einer Provinz, die berühmt für die Herstellung solcher Löwen war. Sie sprach nie über diesen Lover. Nachdem sie mir von dem Missbrauch in ihrer Kindheit erzählt hatte, sprach sie auch nie wieder über ihre Familie. Nur ein einziges Mal, in einem unbedachten Augenblick sagte sie einmal verträumt, dass sie den Reisbrei vermisse, den sie als Kind zum Frühstück gegessen hätte, den Geruch, der das Haus durchzogen habe, während sie ihrer Mutter dabei zuschaute, wie sie mit harter, unbeweglicher Miene den Brei umrührte.
Ich glaube, sie wandte sich ganz bewusst von ihrer Vergangenheit ab: Als sie ihrer Kindheit den Rücken zukehrte, kehrte sie auch ihrem Land den Rücken zu, und irgendwann konnte sie die beiden nicht mehr voneinander trennen. Sie sprach nur von China, wenn ich etwas Konkretes wissen wollte. Auf meine Fragen
antwortete sie mit präzisen, sachlichen Angaben, die nichts Persönliches preisgaben.
Nach einer Weile gab ich es auf.
Wenn es möglich war, arbeiteten wir zusammen. Sophie hatte private Kunden, die sie oft überredete, mich in den Call mit einzuschließen. Peach erzählte ich davon nichts: Da es keine Kunden von Avanti waren, hatte sie nichts damit zu tun. Bei diesen Gelegenheiten hatten wir viel Spaß, lachten viel und tranken viel Champagner. Ich habe immer noch Sophies spontanes, glückliches Lachen im Ohr – ich hätte schwören können, dass sie glücklich klang. Vielleicht war sie glücklich, wenn sie eine Zeit lang in eine Rolle schlüpfen, ein anderer Mensch sein konnte? Ich weiß es nicht.
Was ich weiß, ist, dass sie es kaum erwarten konnte, mit dem Rauchen anzufangen, sobald wir nach dem Call wieder in ihrer Wohnung waren. Oft hatte sie das Kokain schon da. Manchmal, wenn wir Linien mit einem Klienten eingestrichen hatten, bat sie ihn um ein Geschenkpäckchen für zu Hause. Sonst bestellte sie eine Lieferung. Wie beim Pizza-Service, dachte ich respektlos, nur dass diese Typen nie Feierabend machten. Warum sollte man sich auch an normale Bürozeiten halten, wenn das Geschäft rund um die Uhr boomt?
Ich trank Wein, Bier oder einen Cocktail und leistete ihr in der Küche Gesellschaft, während sie das Koks vorbereitete. Normalerweise war ich ein bisschen angesäuselt von den Sachen, die wir beim Klienten konsumiert hatten. Das Letzte, was man in diesem Zustand möchte, ist, allein in einem Zimmer zu sitzen und sich von einer Giraffe anstarren zu lassen. Man will reden, und das tat ich, plapperte vor mich hin, als ob das, was sie tat, völlig normal sei.
Sie zündete sich mehrere Zigaretten an, die herunterbrannten, während sie das Kokain kochte – Crackpfeifen brauchen Asche, damit sie ordentlich ziehen. Sie mischte Koks und Natron in einem
Glasröhrchen zusammen, fügte Wasser hinzu und schüttelte die Mischung über der Flamme ihres Gaskochers.
Dann saßen wir zusammen, hörten Musik und redeten und redeten. Ich schniefte das Koks, das sie für mich übrig gelassen hatte, und sie nahm wohldosierte Züge von ihrer Pfeife. Anschließend lehnte sie sich mit geschlossenen Augen zurück – mit einem Ausdruck rein physischer, orgastischer Verzückung im Gesicht. Das machte mich neugierig: Ich mochte die Wirkung von Kokain, aber keine meiner Erfahrungen damit hatte diese Wirkung auf mich gehabt.
Irgendwann kam es natürlich dazu, dass Sophie die Pfeife auch an mich weiterreichte, und in dem Moment begriff ich, worüber der Typ in dem Dokumentarfilm geredet hatte. Es war ein plötzliches, überwältigendes, pulsierendes Glücksgefühl, völlig anders als alles, was ich je erlebt hatte. Ein kleines Rauschen in den Ohren und dann eine Welle von – nun, Ekstase ist vielleicht ein etwas zu starkes Wort, aber eine Form von Euphorie, die diesem Gefühl sehr nahe kam. Es war besser als jeder Sex, den ich je erlebt
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