Callgirl
und dann hat sie das Angebot abgelehnt. Nein zu sagen ist etwas ganz Schlimmes, Jen. Eine Beleidigung für die Universität. Und natürlich für die Volksrepublik.«
Ich rang mühsam nach Worten, weil ich immer noch Sophie vor mir sah, wie sie aus der Hölle ihrer Kindheit auftaucht und sich trotz allem einen Platz als »Beste der Besten« erobert. Ich hatte gleich gewusst, dass sie brillant war. »Die Kids in den Staaten tun das ständig«, sagte ich schließlich. »Ich schätze, hier nimmt man Bildung nicht so ernst wie in China.«
Er sah mich mitleidig an. Jedes kultivierte Land der Erde ist dem amerikanischen Bildungssystem um Äonen voraus. Henry führte seine Gedanken weiter aus. »Es geht nicht nur um diese Sache mit der Universität. Für uns Chinesen ist die Familie das Wichtigste überhaupt. Loyalität gegenüber der Familie gilt als große Tugend. Es wird erwartet, dass du dich genauso um deine Eltern kümmerst, wie sie sich früher um dich gekümmert haben. Und ich vermute, dass deine Freundin, auch wenn sie China weit hinter sich gelassen hat, und ganz gleich, wie erfolgreich sie hier in Amerika ist, sich schämt und unter Schuldgefühlen leidet, weil sie diesem Anspruch nicht gerecht wird. Sie sollte drüben bei ihren Eltern sein, sich um sie kümmern, wenn sie älter werden. Für uns ist es eine Ehre, dass wir uns um die Menschen kümmern dürfen, die sich um uns gekümmert haben, die reich an Weisheit und Erfahrung sind. Das hat sie gelernt, davon ist sie in ihrem tiefsten Innern überzeugt, auch wenn ihr Verstand sie vielleicht etwas anderes glauben macht.«
Ich schob mein Sandwich von mir weg. Mir war der Appetit vergangen, aber deshalb musste ich ja nicht unbedingt vor lauter Nervosität das Brot zwischen meinen Fingern zerbröseln. »Sie scheint nicht so zu empfinden – na ja, eigentlich hat sie nie darüber gesprochen«, sagte ich. »Wahrscheinlich weiß ich nicht, was sie empfindet.«
»Und doch hast du dir so große Sorgen gemacht, dass du mit mir sprechen wolltest.« Er sah mich freundlich und ein wenig traurig an. »Ich kann Verhalten nicht vorhersagen. Und deine Freundin verhält sich nicht wie eine Chinesin, also kann ich nicht sehen, welchen Weg sie einschlagen wird. Aber – ich weiß nicht, ob ich das sagen sollte …« Er wandte den Blick ab, schwieg einen Moment und sah mir schließlich wieder in die Augen. »Was ich sagen will, stößt bei vielen auf Ablehnung«, erklärte er. »Es gilt als unmodern. Und viele sagen, dass man es nicht tun darf. Aber wenn ein Mensch, und insbesondere eine Frau, etwas … nun, sagen wir, etwas Falsches tut, dann gilt es als annehmbare Methode, um …«, er brach ab, schüttelte frustriert den Kopf. »Ich bin Naturwissenschaftler«, sagte er entschuldigend mit einem matten Lächeln. »Mir fehlt der notwendige Wortschatz für diese Erklärung.«
Ich half ihm aus: »Meinst du vielleicht ›eine annehmbare Methode, um Vergebung zu erlangen‹?«
Er runzelte die Stirn; das traf es nicht ganz. »Um das Geschehene ungeschehen zu machen«, sagte er schließlich, immer noch unzufrieden mit den Worten. »Um die Schande aus der Welt zu schaffen und die Seele zu reinigen, wird die Person dazu ermutigt, sich selbst das Leben zu nehmen, Selbstmord zu begehen.« Er zögerte. »Ich spreche das an, weil ich mich frage, ob das vielleicht der Weg ist, den deine Freundin gehen wird, wenn sie dir Anlass zu so großer Sorge gibt.« Er zuckte mit den Achseln, tupfte sich mit der Serviette an die Lippen und erhob sich. »Ich muss jetzt ins Labor. Ich halte um ein Uhr eine Vorlesung«, sagte er in
freundlichem und leicht bedauerndem Tonfall. »Ich stehe dir jederzeit gern zur Verfügung, wenn du weitere Fragen hast.«
Ich nickte. »Danke, Henry. Danke, dass du dir für mich Zeit genommen hast.«
Das waren schlechte Nachrichten. Der frühe Missbrauch hatte Sophie gelehrt, dass sie einem Mann nur gefallen konnte, wenn sie kindlich, sogar ängstlich war und wenn sie die von ihm festgesetzten Regeln befolgte, auch wenn sie einen unglaublich hohen Preis dafür zahlen musste. Und sobald sie alles genauso machte, wie er es wollte, lehnte er sie trotzdem ab, und lehrte sie, dass Liebe etwas Bedingtes, Flüchtiges, Grausames und Willkürliches war. War sie in die USA geflohen, um sich selbst zu behaupten, um ihre Stärke zu beweisen und der Welt zu zeigen, dass sie selbst besser für sich sorgen konnte, als ihre Eltern es je getan hatten? Oder war sie vor den Schuldgefühlen
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