Cambion Chronicles 1
sie vor dem Zwischenfall gesehen hat.«
»Warum? Ich dachte, sie hätte einen Herzinfarkt gehabt.«
»Das sagen die Sanitäter auch, aber die Polizei kommt heute vorbei, um den Mitarbeitern ein paar Fragen zu stellen. Das Opfer hatte eine Tüte von uns im Auto, und der Notruf kam aus dem Laden«, sagte sie und bemühte sich dabei, nicht am Computer einzuschlafen.
Ich nickte, während mein Hirn auf Hochtouren lief. Lindas Erklärung ließ bei mir die Alarmglocken schrillen, und der imaginäre Zeigefinger deutete in eine ganz bestimmte Richtung.
Nachdem ich Linda ein paar Überstunden aus den gierigen Klauen geleiert hatte, marschierte ich in den hinteren Teil des Ladens, wo Nadine gerade frische Kekse aus dem Ofen zog. Der Duft wirkte auf alle Süßschnäbel im Umkreis von zwei Blocks wie Sirenengesang. Im Interesse der Bikinisaison musste ich der Versuchung jedoch widerstehen.
»Was geht?«, rief ich und griff nach einer Schürze.
»Nichts Neues. Die Leute kaufen sich ihre eigenen Sargnägel.« Sie zuckte mit den Achseln.
»Du bist ja richtig quirlig heute.«
»Na ja, ich hatte heute die Frühschicht, also kann ich auch früh gehen und habe noch Zeit, meine Semesterarbeit fertigzuschreiben.«
Wie Nadine es schaffte, in drei Jobs zu arbeiten und noch die Sommerkurse an der Uni zu belegen, überstieg meine Vorstellungskraft. Sie sah nicht nur aus wie ein Model, sie war auch noch klug und arbeitete wie ein Tier. Sie spielte uns faule Amerikaner in jeder Hinsicht an die Wand.
Irgendwie fühlten Nadine und ich uns zueinander hingezogen wie verwandte Seelen, und wir legten unsere Schichten im Laden immer so, dass wir zusammen abhängen konnten. Ach ja, und arbeiten.
»Wir brauchen mehr Entkoffeinierten.« Nadine untersuchte die Zeitschaltuhr in ihrer Hand.
Abgesehen von den üblichen Sommertouristen und den aufgebrezelten kleinen Mädchen, die den ganzen Tag im Einkaufszentrum rumhingen, war in den nächsten drei Stunden nicht viel los. Und wie immer gab es einen, der mein Namensschildchen dazu missbrauchte, meinen Namen vollkommen falsch auszusprechen, nur weil er freundlich sein wollte.
Komischerweise nervte mich das nicht. Ich lächelte nur und sagte langsam und deutlich: »Sir, es heißt Samara. Sa- MAH -ra. Aber Sie können mich auch einfach Sam nennen. Ich bestehe sogar darauf.«
Nach dem üblichen Mittagspausengewusel kamen meine Lieblingskunden an den Tresen: die historischen Akteure, die am Merchants Square im Zentrum von Williamsburg arbeiteten.
Die Leute mit den weißen Strumpfhosen, den Schnallenschuhen und den gepuderten Perücken hauten mich einfach um. Diese Stadt war wie eine zum Leben erwachte Geschichtsstunde. Touristen kamen von nah und fern, um auf dem Kopfsteinpflaster von Colonial Williamsburg zu flanieren und den Tavernenwirtinnen, Silberschmieden und befreiten Sklaven zuzusehen, wie sie alte Zeiten nachspielten.
Seltsam war nur zu sehen, wie der Stadtschreier in der Mittagspause seiner Freundin eine SMS schrieb. Oder wie Thomas Jefferson im Supermarkt auftauchte und einen Monatsvorrat Klopapier und Tiefkühlgerichte in seinen Einkaufswagen stapelte. Auf dem Weg zur Arbeit war heute ein Farmpächter auf einem Motorroller mit Spinning-Wheels-Radkappen an mir vorbeigesaust. Ernsthaft, ich könnte mir so was gar nicht ausdenken. Es vergeht kein Tag, an dem man hier nicht mindestens zweimal etwas in der Art sieht. Die größte Touristenattraktion der Stadt.
Nachdem ich Martha Washington mit Cappuccino versorgt hatte, brauchte ich eine Stärkung. Während ich mir den zweiten Espresso des Tages klaute, hörte ich jemanden hinter mir sagen: »Yo, SM , hast du mal ’ne Minute?«
Ich wusste, wer es war, bevor ich mich umdrehen konnte. Nur einer hatte so einen perversen Sinn für Humor, dass er aus meinen Initialen einen schmutzigen Witz strickte. Ich stürzte den Espresso hinunter und drehte mich langsam zum Tresen um. »Was willst du, Dougie?«
Er hatte die Hände in die Taschen seiner Baggy Jeans gesteckt. Ein verkehrt herum getragenes Sonnenschild bändigte sein stacheliges schwarzes Haar. Es beschämt mich, das zuzugeben, aber Dougie war schon süß in seiner Möchtegern-Rapper-Verkleidung, und sein grünes Poloshirt betonte seine haselnussbraunen Augen und die olivfarbene Haut. Aber dieser hochgeschlagene Kragen ging gar nicht.
»Hast du Mia gesehen?«, fragte er. »Sie geht nicht ans Telefon.«
»Ich dachte, du redest nicht mit ihr.«
Er sah auf seine ungeschnürten Sneakers
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