Camel Club 02 - Die Sammler
die Seiten wechseln, je nachdem, wer gerade die Regierungsgewalt ausübte. All die Querelen, Intrigen und Komplotte, die man ertrug und austrug, um Macht zu erringen oder Macht zu behalten, beanspruchten sämtliche Kräfte, die überaus schlaue und talentierte Menschen aufbieten konnten. Das wirbelnde, sich immerzu verändernde Mosaik hatte zu viele sich in wilder Hektik bewegende Teile, als dass ein Außenstehender auch nur im Ansatz hätte nachvollziehen können, was tatsächlich geschah. Es ähnelte einem mörderischen Kindergarten ohne Feierabend.
Ein paar Minuten später erklomm DeHaven die breite Freitreppe des Jefferson Building, das unter seinem kolossalen Kuppeldach die Kongressbibliothek barg. Er ließ sich vom Wachdienst die Schlüssel aushändigen, quittierte sie, begab sich in den ersten Stock und rasch zu Raum LJ 239. Dahinter befanden sich der Lesesaal der Raritätenabteilung und die wabenartige Anlage der Tresore, in denen man viele papierene Schätze der Nation sicher aufbewahrte. Zu diesen bibliophilen Reichtümern zählte eine original Druckfassung der Unabhängigkeitserklärung, an der die Gründungsväter auf dem Marsch zur Befreiung vom britischen Joch in Philadelphia getüftelt hatten. Was sie heute wohl von der Stadt halten würden?
DeHaven schloss die dicke Außentür des Lesesaals auf und schwenkte ihre Flügel seitlich bis an die Wand. Dann erledigte er die umständliche Scannerprozedur, die es ihm gestattete, den Saal zu betreten. Jeden Tag war DeHaven als Erster da. Obgleich seine Alltagsaufgaben ihn zumeist aus dem Lesesaal fernhielten, hatte DeHaven eine symbiotische Beziehung zu alten Büchern, die er einem Laien nicht hätte erklären können, die einem Bibliophilen von nur mittelmäßiger Sammelleidenschaft jedoch auf Anhieb begreiflich gewesen wäre.
An den Wochenenden blieb der Lesesaal geschlossen, sodass DeHaven Zeit fand, Radtouren zu machen, nach seltenen Büchern für die eigene Privatsammlung zu recherchieren und Klavier zu spielen. Das Tastenquälen hatte er unter der strengen Anleitung seines Vaters gelernt, dessen ehrgeiziger Wunsch, Konzertpianist zu werden, an der grausamen Wahrheit gescheitert war, dass er schlichtweg nicht gut genug spielen konnte. Gleiches galt leider auch für seinen Sohn. Und doch klimperte DeHaven seit dem Tod seines Vaters ab und zu gern ein bisschen herum. Wenngleich ihm unter der Fuchtel der strikten Verhaltensnormen seiner Eltern manchmal die Haare zu Berge gestanden hatten, war er ihnen fast immer ein gehorsamer Sohn gewesen.
Nur einmal hatte DeHaven etwas getan, das ihren Wünschen widersprach. Dabei allerdings hatte er sich eine schwere Übertretung geleistet: Er hatte eine beinahe zwanzig Jahre jüngere Frau geheiratet – eine Dame, so klärte seine Mutter ihn unablässig auf, die weit unter seinem gesellschaftlichen Status stand, und am Ende, ein Jahr später, hatte sie ihn genötigt, sich scheiden zu lassen. Eine Mutter sollte nicht die Macht haben, ihren Sohn zu zwingen, die Frau zu verlassen, die er liebte, nicht einmal bei Androhung des Streichens aller finanziellen Mittel. DeHavens Mutter jedoch war sogar dermaßen tief gesunken, dass sie ihm gedroht hatte, ihre sämtlichen Buchraritäten zu verkaufen, die eigentlich ihrem Sprössling vererbt werden sollten. Dennoch – er hätte sich ihr widersetzen müssen, hätte ihr ins Gesicht sagen müssen, sie könne ihn mal kreuzweise. Heute war DeHaven überzeugt, dass es richtig gewesen wäre, aber nun war es natürlich viel zu spät. Hätte er bloß vor Jahren genügend Rückgrat gehabt.
Versonnen stöhnte DeHaven vor sich hin, knöpfte das Jackett auf und glättete den Schlips. Damals hatte er die wahrscheinlich glücklichsten zwölf Monate seines Lebens genossen. Nie zuvor hatte er einen Menschen wie seine Ex gekannt, und er war sicher, dass ihm nie wieder eine ähnliche Frau begegnen würde. Und doch hatte er sich von ihr getrennt, nur weil seine Mutter ihn erpresst hatte. Nach der Trennung hatte er ihr noch jahrelang geschrieben und sich auf jede nur denkbare Weise bei ihr entschuldigt. Geld hatte er ihr geschickt, Juwelen, exotische Mitbringsel von seinen Weltreisen, doch nie hatte er sie gebeten, zu ihm zurückzukehren. Nein, niemals. Einige Male hatte sie ihm geantwortet, doch irgendwann waren die Päckchen und Briefe ihm dann ungeöffnet zurückgeschickt worden. Nach dem Ableben seiner Mutter hatte DeHaven überlegt, sich auf die Suche nach ihr zu machen, aber schließlich
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