Camorrista
Boss, von Saro Incantalupo, den man nicht zu fassen bekommt, veehrt werden.
Ein unglaubliches Trio, aber - welch ein Zufall! - ein Trio von Legasthenikern.)
Mariella Mastronero sagt, sie hat fünfhundertzweiundneunzig Kinder. Sie hat die letzten drei Jahre eingeschlossen in ihrem Zimmer verbracht und den ganzen Tag an einem riesigen Patchwork aus Flicken und Stoffresten genäht. Ab und zu trennt sie das Ganze auf und näht es nach einer Ordnung, die
in auch ihr selbst unzugänglichen Regionen ihres Geistes verborgen ist, wieder zusammen. Auf jeden Fall behauptet sie, das Kleid zu nähen, das alle ihre fünfhundertzweiundneunzig Kinder umhüllen soll.
Mariella Mastronero ist sechs Jahre älter als ich, hat nur noch vier Zähne im Mund, ihre Brüste hängen flach herunter. Sie ist groß, kräftig, und ich könnte nicht sagen, ob sie als Mädchen schön war: Es ist, als hätten das Heroin, die schlechte Ernährung, die Hepatitis und eine Art autistisches Syndrom, in dem sie für große Teile des Tages versinkt, jedes Zeichen der Zeit verfälscht und aus ihrem Gesicht jede logische Spur der Vergangenheit getilgt. Und jede Ähnlichkeit mit ihrem Sohn.
(Auch Miguel Angel Ferrera ähnelt seinem Sohn sehr wenig, habe ich festgestellt. Komisch, im Allgemeinen erwartet man, dass man beim Anblick der Kinder irgendein Merkmal der Eltern wiedererkennt. Den Kindern bleibt die Last der Ähnlichkeit oder die Verurteilung zur Ähnlichkeit.
Stattdessen fordere ich ihn von den Eltern, diesen Beweis. Doch bei Mariella Mastronero ist diese Spur wie unlesbar. Und auch bei Miguel Angel Ferrera. Warum? Was hat dieser Mann aus seinem Gesicht tilgen wollen? In dem Film, den ich mir vorzustellen beginne, hat Miguel Angel Ferrera eine Vergangenheit als Drogenhändler auslöschen wollen. Als Dealer, als Capopiazza, als Capozona, und dann immer weiter nach oben, Stufe um Stufe.)
Im Viertel 167 war Mariella Mastroneros Sohn für alle die »Drogengeburt«. Frucht einer der vielen Fälle, als seine Mutter sich Drogen im Tausch gegen gewisse Dienstleistungen geben ließ, weil das Geld nie reichte. Die Gerüchte im Viertel sind erbarmungslos, wie Flüche wüten sie gegen den, der sich keinen guten Ruf mehr leisten kann.
Oft von der Wahrheit und der Unwahrheit gleich weit entfernt.
Mariella Mastronero hat Daniele schon seit fünf oder sechs Jahren nicht mehr gesehen. Sie hat das Gesicht ihres Sohnes im Fernsehen kein einziges Mal erkannt, und der Psychiater bezweifelt, dass sie wirklich verstehen würde, was ihm passiert ist. Die Pfleger sagen mir, dass man sie unmöglich mit auf eine Reise nehmen kann. Der Leiter der Einrichtung bittet mich, mein Vorhaben fallen zu lassen, sie haben schon zwei schwierige Wochen in der Angst verbracht, dass der Clan sich gar an einem Wrack wie ihr noch rächen könnte (Morde sind eine Form der Kommunikation, wie D’Intrò sagt).
Ich lasse sie in ihrem grell orange gestrichenen Zimmer zurück, wie sie den Faden mit den Zähnen durchbeißt und Flicken wieder zusammennäht wie Stücke eines Puzzles, das früher oder später einen Sinn bekommen könnte. Wer weiß, für wen.
Ich mache mich noch einmal auf die Reise. Kehre mit einem Lieferwagen in den Norden zurück.
(Jeden Tag sehe ich mir jetzt im Spiegel meine Narbe in Form eines K an. Ich reinige sie und versorge sie. Taffer Buchstabe, das K , habe ich ihm beigebracht. Ich sehe meine Narbe an und denke an Cocíss’ Narben. Jene, die er unter den Haaren versteckte, und die unter den Augen, die er sich nicht entfernen lassen wollte, obwohl er sich die Augenbrauen mit der Pinzette zupfte.
Wertvolle Narben, denke ich. Wie Zeichen der Zugehörigkeit, der Erkenntnis. Jeden Tag komme ich mit meinem Film voran, und ich stelle mir vor, dass er gedacht hat, er müsse früher oder später von einem erkannt werden, der ihn seit Jahren nicht gesehen hat. Vielleicht eben von Miguel Angel Ferrera, seinem geheimen Vater.)
Es tut mir leid, dass Mariella Mastronero jetzt nicht da ist.
Ich parke den Lieferwagen vor dem Gittertor, das die Mönche immer noch das Tor der Toten nennen.
Denselben Lieferwagen einer Firma für Röntgengeräte, mit dem Cocíss’ Leiche gestern Nachmittag aus dem Leichenschauhaus der Poliklinik von Forte Santo herausgebracht wurde, sechshundert Kilometer von hier, um, ohne Aufsehen zu erregen, in das Krematorium einer nahen Stadt gefahren zu werden.
Es ist die Zeit der Nacht, wenn die Hügel schon dunkler als der Himmel
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