Camorrista
Hauptkommissar seine Fassung wiederfindet, um mir eine weitere Lektion zu erteilen. Darin, wie ich mich fügsam diskreditieren, mir den Prozess machen und mich verurteilen lassen soll, ohne viel Aufsehen allerdings, weil niemand etwas dabei zu gewinnen hat, wenn das alles groß herauskommt. Ich am wenigsten. Das Wichtige ist, dass die Incantalupo die richtigen, beruhigenden Signale erhalten, dass wir sie wissen lassen, ich bin neutralisiert, unter Kontrolle.
»Im Augenblick gibt es sonst nichts zu sagen oder zu verstehen«, lautet seine Schlussfolgerung.
»Sie irren sich. Ich würde gerne wissen, was aus Ihrem Krieg geworden ist, Dottor D’Intrò.«
Er baut sich vor mir auf, neigt sich nach vorn, die Augen vor Indigniertheit geschlossen. Er senkt den Ton seiner Stimme, zischt und brummt.
»Im Krieg gibt es auch Waffenstillstände. Und man verfolgt eine Taktik, sucht sich im richtigen Moment den richtigen Feind. So gewinnt man einen Krieg, vergessen Sie das nicht.«
»Und sagen Sie mir, wer Ihr Vorbild ist? Churchill, Napoleon oder Karl der Große?«
Er schlüpft in seine Jacke, schaltet das Notebook aus und zieht den Stecker aus der Steckdose. Er wickelt ein Begrüßungsschokolädchen aus und lässt das Papier auf dem Schreibtisch liegen.
»Ich wünsche Ihnen viel Glück.«
(Ich weiß, dass Cocíss mich benutzt hat, aber ich weiß auch, dass Cocíss mich zehnmal hätte töten können und dass er mir das Leben gerettet hat. Ich bin mir auch sicher, dass mich zu töten ihm andererseits keinesfalls das Leben gerettet hätte. Quälend ist der Gedanke, ob er mich jemals als Hoffnung gesehen hat. Ob ein Wort mehr oder eins weniger ihn in jener Nacht am Rand des Abgrunds hätte zurückhalten können.
Und ich würde gerne wissen, warum er stattdessen das Schicksal so sehr herausgefordert hat. Warum er mich benutzt hat, um zu einem so kalten Vater zurückzukehren. Und so sehr in die Nähe des Abgrunds der Incantalupo.)
Der Abgrund meines Vaters ist ein Kellergeschoss voller Belege, privater Schriftstücke, Gerichtsbeschlüsse, Lagepläne. Fast jeden Tag leiste ich ihm ein wenig Gesellschaft zwischen den Stapeln von Papier, von denen ich mich immer ferngehalten habe. Wir reden nicht viel, aber wenigstens sind wir zusammen. Als ich ein bisschen Korrespondenz lese, staune ich beinahe über den Berg Arbeit, die dieser jetzt so mitgenommene Mann kurz vor dem Zusammenbruch noch bewältigt hat. Er hatte Großhändlern Bioprodukte zu wettbewerbsfähigen Preisen angeboten, und ich muss sagen, dass sein Projekt noch heute alles andere als schlecht durchdacht scheint.
Ich stoße auf eine Untersuchung, die er vor wenigen Jahren über die von Großhändlern von Fleisch, Obst und Gemüse praktizierten Preise angestellt hat. Als ich unter den verschiedenen Firmenzeichen das der Dicar von Renzo Antoniolo & Partner finde, schlägt mir das Herz bis zum Hals. Instinktiv möchte ich meinen Vater etwas fragen, doch ich halte es zurück und warte, bis meine Mutter von ihren Einkäufen wieder da ist. Ich mache ihr einen Tee, und wir setzen uns nach draußen in den winzigen, heruntergekommenen Garten im Schatten der Betonmauer.
Sie erzählt mir, dass mein Vater eines schönen Tages ein Gespräch mit dem Vorstand einer Supermarktkette hatte. Man erklärte ihm, dass seine Angebote interessant seien, man sie aber nicht annehmen könne, um nicht die »konsolidierten« Beziehungen zu anderen Lebensmittelgroßhändlern zu stören. Zu Leuten, die eine gewisse Bedeutung hätten und keine Konkurrenz wollten. Zu Leuten, die ihnen Probleme bereiten könnten. Mein Vater ließ nicht locker, doch es war nichts zu machen. Trotz deren höherer Preise bei niedrigerer Qualität zogen die Supermärkte weiterhin Lieferanten wie die Dicar
vor. Man schloss keine Verträge mit ihm, und den Banken kam sozusagen die Begeisterung abhanden. Ein Jahr später begann das Konkursverfahren.
Doch der Leiter des Supermarkts in der Nachbarschaft war ein so anständiger Mensch, erinnert sich meine Mutter, dass er sich bereiterklärte, mich als Kassiererin und meinen älteren Bruder, der kurz vor dem Examen stand, in der Verwaltung einzustellen.
Von diesem Punkt an kenne ich die Geschichte gut.
Mein Bruder Diego akzeptierte. Ich dagegen wollte mich, koste es, was es wolle, für Philosophie einschreiben.
Zum ersten Mal schaue ich mir die Male im Spiegel an.
Sie sind furchtbar. Weiße Haut und rissiges dunkles Blut.
Ich weine, sehe sie aber weiter
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