Camorrista
an.
Die Gemeinde hat das Geld zur Verfügung gestellt, um Cocíss zu beerdigen, doch seine Überreste liegen seit acht Tagen im Kühlfach des Leichenschauhauses. Zwei Pfarrer aus Travagliano sind unter Druck gesetzt worden, die Beerdigung nicht abzuhalten, nicht näher definierte Bürgerkomitees haben auf den beiden städtischen Friedhöfen mit Plakaten demonstriert, auf denen »Unsere Toten wollen dich nicht« und »Geh und brate in der Hölle« stand.
Alles in großem Stil organisiert. So gut, dass die Gemeinde und der Präfekt zu dem Schluss kamen, aus Gründen der öffentlichen Ordnung jedwede Entscheidung zu verschieben, bis sich die Situation wieder beruhigt hat.
Ich habe den Ermittlungsbescheid erhalten, die daraus folgende Suspension vom Dienst und die Aufforderung, vor einem Staatsanwalt in Florenz zu erscheinen. Die Darstellungen von Reja, D’Intrò und der Antimafia-Staatsanwaltschaft sind übereinstimmend: Cocíss hatte sich spontan angeboten zu kooperieren und sofort waren strengste Schutzmaßnahmen für ihn ergriffen worde. Die Bedeutsamkeit seiner Hinweise wird durch die Blitzaktion Antigone 2 bezeugt und
als Grund für die außerhalb des Üblichen ergriffenen Maßnahmen angeführt. An dem Tag, als er sich als Urheber des Massakers auf dem Corso Due Sicilie herausstellte, hatte ich den Auftrag, ihn Soldaten einer Kaserne in Pisa zu übergeben. Doch aus unerklärlichen Gründen hätte ich mich bei der Überführung eigenmächtig verhalten und dadurch die Flucht Daniele Mastroneros gerade zu dem Zeitpunkt begünstigt, als er vom Informanten zum wegen dreifachen Mordes Gesuchten geworden war.
Die Verteidigungslinie meines Rechtsanwalts besteht darin, meine schwere Fahrlässigkeit einzugestehen, um damit zu verhindern, dass ich wegen fortgesetzter Begünstigung verurteilt würde. Er sagt, dass alle ein Interesse daran hätten, über die Ereignisse nach dem fraglichen Abend einen Nebelschleier zu breiten. Er empfiehlt mir immer wieder, nicht ein noch höheres Risiko einzugehen, nicht einmal entfernt damit zu drohen, die Wahrheit zu erzählen. Das würde nur einen Skandal auslösen, der letztlich nur jenen nützen würde, die die beiden Mädchen gerächt haben, während die Polizei dastände, als hätte sie alles verpfuscht, und das, obwohl sie den Mörder von Nunzia und Caterina schon in den Händen hatte.
Eines Tages rufe ich D’Intrò an. Er scheint nicht gerade erfreut, meine Stimme zu hören. Als Erstes mache ich ihm Komplimente wegen seiner Tochter: In den Zeitungen wird sie als neue Flamme eines bekannten Schlagersängers gehandelt. Man hat sie zusammen bei einer Gala im Bistrot in Baia Nerva fotografiert. Die Geschichte macht ihm nicht gerade gute Laune, doch als ich ihm von meiner Idee erzähle, verspricht er, sich darum zu kümmern und zu tun, was er kann.
Die Idee führt mich zurück nach Spaccavento, zwischen die Klauenschläge des Dämons. Ich möchte Padre Jacopo um Entschuldigung bitten und Frate Jacques erneut nach einem Schlüssel fragen.
Und dann sitze ich wieder im Zug, zusammen mit dem Kollegen
Salvo, und sehe durchs Fenster, wie der Himmel des Südens vorbeigleitet und von den starren, in der Sonne glühenden Schienen widerscheint.
(An jedem Bahnhof lese ich die Schilder, dann betrachte ich den Sitzplatz neben mir. Cocíss hat mich benutzt, aber niemand ahnt wirklich, wofür. Ich habe noch seine blitzschnellen Fortschritte vor Augen, seine irrsinnige Energie, eine Energie, wie man sie nur in seinem Alter hat. Energie, die er jahrelang darauf verwandt hat, seine Störung zu verbergen. Und ein Boss zu werden. Trotz allem.
Er war nicht »blöd«, er war nicht »verrückt«, und ich erinnere mich daran, dass ich es ihm wenigstens einmal gesagt habe, und ich erinnere mich an den erleichterten Ausdruck in seinem Gesicht, den sein Stolz ihn sogleich wieder zu verbergen zwang.
Er ist nicht der einzige Legastheniker, der viel erreicht hat. Auch das hätte ich ihm erzählen können. Vielleicht hätte es ihm gefallen zu erfahren, dass auch Einstein oder Yeats gegen diese Störung angekämpft haben.
Nein, vielleicht hätte ich irgendeinen berühmten Schauspieler oder einen Feldherrn anführen sollen. Irgendein anderes Alphatier. Einen wie Napoleon. Oder vielleicht einen Staatsmann wie Churchill. Oder Karl den Großen, einen Kaiser. Ja, ich hätte ihm diese historischen Persönlichkeiten aufzählen und sagen sollen, dass sie alle Legastheniker waren und trotzdem vom großen
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