Camorrista
sind. Ich nehme den versiegelten Metallkoffer aus dem Kofferraum und gehe hinein. Das Tor der Toten quietscht nicht.
Als er mich sieht, stellt Padre Jacopo den Spaten in den Kies und wischt sich die Stirn ab.
»Das müsste reichen, nicht?«, fragt er Joséphine, die auf einem Steinpfeiler sitzt, die langen Beine übereinander geschlagen.
Sie nickt ernst, um den Hals hat sie einen Schal aus violettem Tüll geschlungen. Ihr Lächeln gelingt nicht ganz, doch als ich an ihr vorbeigehe, streichelt sie mir mit ihren kräftigen Fingern zuerst über den Arm, dann über den Rücken. Es geht kein Windhauch, und die Erde zwischen den Steinen ist dunkel.
Padre Jacopo möchte lieber nicht zu tief in die Erde graben. Dem Archiv der Abtei zufolge sind in dieser Ecke des Friedhofs in jüngster Zeit keine Bestattungen vorgenommen worden, doch es ist besser, nichts zu riskieren. Die Mönche wurden nur in ein Leichentuch gehüllt, und nicht immer tut die nackte Erde ihre Arbeit in der gleichen Zeit. Manchmal genügen hundert oder zweihundert Jahre nicht.
Zweihundertdreißig Millionen Jahre.
Eine Woche.
Achtzehn Jahre und ein Monat.
Wie dem auch sei, all das sind winzige Splitter der Ewigkeit.
(Vielleicht haben wir ja alle einen eiskalten und gleichgültigen Vater, der uns für immer zeichnet: Aber dann ist es, als
verleugne er seine Ähnlichkeit mit uns. Ein unendlicher und unerforschlicher Abgrund. Oder vielleicht auch nicht.
Ich bin mir einer Sache inzwischen sicher. In diesem Abgrund haben Cocíss’ tote Augen das Gesicht eines erbarmungslosen Vaters gesehen. Des geheimen Vaters, der ihm befohlen hatte, Riccardo Capuano zu töten, damit sich zwei rivalisierende Clans nicht verbündeten. Des geheimen Vaters, der ihn opferte, als die Taktik gebot, dass die Scurante nicht mehr die richtigen Feinde seien.
Ja. Das Gesicht des Mannes ohne Gesicht, das Gesicht von Saro Incantalupo.)
Ich stelle die Urne ab, dann füllen wir das Loch mit Erde. Das tun Joséphine und ich. Mit den Händen. Padre Jacopo stützt sich auf den Spaten und macht ein Kreuzzeichen.
Durch den Bogengang schreitet eine Reihe weißer Gespenster. Die vereinzelten Lichter werden immer unschärfer, der Morgen graut, die Weinreben auf dem Hügel tauchen wie eine geordnete Schar aus dem Dunkel auf.
Ich beobachte, wie das letzte der weißen Gespenster die Tore der Kirche weit aufmacht.
Vielleicht sieht es uns auch an, bevor es zwischen den Mauern aus kaltem Stein verschwindet.
Auf den Knien, die Hände schmutzig von der Erde, umarme ich Joséphine und fühle, wie auch sie mich fest drückt.
(Ich weine nicht. Nicht eine Träne, und nie mehr.
Ich werde die beißenden Tränen der Rache nicht weinen. Ich habe kein Recht darauf zu grollen, und ich muss mich nicht schuldig fühlen.
Und außerdem gibt es in meinem Inneren nichts mehr, das sich auflösen müsste. Und außerdem könnte sich aus meinen Augen, mit den Tränen, auch das Gesicht von Saro Incantalupo lösen.
Also weine ich nicht.
Ich werde warten.)
Ich halte Joséphine fest, aber nicht die Stille. Die Stille endet.
Eine leise Stimme ist zu hören. Es ist der erste Gottesdienst des Morgens.
Der gregorianische Gesang kommt wie aus weiter Ferne.
Ich werde warten.
Ich werde warten, bis sich der Schmerz in Mut verwandelt.
Dank
M ein Dank gilt Barbara, Simona, Luigi, Luciano und Rosario für das, was sie mir gesagt haben.
Und Paola Tavella, Maurizio Esposito und Giuseppe Ferraro für das, was sie geschrieben haben.
Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel »Rosa elettrica« bei Einaudi in Turin.
1. Auflage
Copyright © 2007 Giulio Einaudi Editore s.p.a., Torino Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009
beim C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
eISBN : 978-3-641-03798-3
www.cbertelsmann.de
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