Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
europäischen Geist. Das Mittelmeerdenken soll die imperiale Nationalstaatsperspektive ablösen und ein transnationales Europa vorbereiten, für das sich auch Camus begeistern wird.
Am 1 . Dezember 1933 tritt Valéry seinen Dienst als Leiter des Mittelmeerzentrums an, organisiert Vorlesungen und Kongresse. Im Frühjahr 1936 besucht er Algier und trägt einen schon 1934 publizierten Text mit dem Titel «Inspirations méditerranéennes» vor, in dem er die mediterranen Eindrücke seiner Kindheit sowie das Meer, den Himmel und die Sonne als deren Götter preist. Die Weisheit des Protagoras – «Der Mensch ist das Maß aller Dinge» – nennt Valéry eine «mittelmeerische Entdeckung» und das Mittelmeer die «Wiege der europäischen Kultur». [67] Der Vortrag dieses gefragten Kulturdiplomaten des französischen Staats hat seinen Eindruck auf Camus nicht verfehlt.
Den ansprechenden Titel Valérys, «Inspirations méditerranéennes», übernimmt Jean Grenier, als er 1937 in der
Collection: Méditerranéennes
bei Camus’ Freund und Verleger Charlot in Algier eine Textsammlung veröffentlicht. Auch Grenier stimmt in die mittelmeerische Rhetorik des historischen Augenblicks ein: «Es gibt für jeden Menschen Orte des besonderen Glücks, Landschaften, in denen er sich entfaltet und eine Art der Verzauberung erfährt, die über die bloße Lebensfreude weit hinaus geht. Es ist die Freude, die Flaubert meint, wenn er sagt, ‹ich habe manchmal Seelenzustände erlebt, die größer waren als das Leben und in denen mir weder Ehre noch Glück etwas bedeutet haben›. Das Mittelmeer kann einen solchen Seelenzustand herbeiführen». [68]
Durch Grenier wird Camus sehr früh in die Mittelmeerphilosophie der Pariser Kulturdiplomatie eingeführt. Wer Camus verstehen will, muss wissen, wer sein Lehrer Jean Grenier war und was er wollte.
Die Lehren des Meisters
Nur fünfzehn Jahre älter als Camus, arbeitet der ehemalige Redakteur der renommierten Pariser Intellektuellenzeitschrift
Nouvelle Revue Française
seit 1930 als Gymnasiallehrer in Algier. Fotos zeigen einen kapriziösen jungen Intellektuellen, der sich den Nagel des kleinen Fingers nach Art der asiatischen Weisen nicht schneidet.
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Jean Grenier, 1926
Jean Grenier ist außerdem ein vielgereister Schriftsteller und Publizist. In den zwanziger Jahren veröffentlicht er ein Buch über den Charme des Orients. In den dreißiger Jahren folgen
Terrasses de Lourmarin
und
Sagesse de Lourmarin
, zwei Essays über jenen Ort im Lubéron, in dessen Schloss seit 1927 Schriftstellertagungen stattfinden und in dem Camus am Lebensende ein Haus kaufen und auf dessen Friedhof er begraben werden wird. 1933 erscheint das Buch, von dem Camus behauptet, dass es sein Leben wie kein anderes verändert habe:
Die Inseln
, eine Sammlung essayistischer Prosa, die Geschichten über Katzen und Metzger, Reiseeindrücke aus Italien und Südfrankreich, Betrachtungen über Griechenland und Indien vereint, darunter auch literarische Kuriositäten wie einen Prosatext über den «Traum von einem ‹geheimen› Leben in einer unbekannten Stadt», in der man sich niemandem zu erkennen gibt und so tut, als sei man der dümmste und unbedeutendste aller Zeitgenossen.
Camus ist von diesem Buch begeistert, noch in seinem Todesjahr behauptet er, dessen Ton habe ihn wie einen Trunkenen durch die Abende von Algier irren lassen. Er nennt Grenier seinen «Meister», dem er dankbare Achtung schulde; seine Bewunderung habe nicht zu «Unterwürfigkeit und Gehorsam», sondern zu «Nachahmung im geistigen Sinne des Wortes» [69] geführt.
Greniers Essaysammlung
Sur l’Esprit d’orthodoxie
, die 1938 bei Gallimard erscheint, dient 1951 als Vorbild für Camus’ politisch-philosophischen Essay
Der Mensch in der Revolte
.
Während der Okkupation zieht Grenier sich zurück. Als der jüdische Philosoph Vladimir Jankélévitch 1942 aufgrund des Judenstatuts den Lehrstuhl in Lille räumen muss, nimmt er geräuschlos dessen Platz ein. Ein skandalöser Karriereschritt des Meisters – Vladimir Jankélévitch, einer der bedeutendsten Moralphilosophen des 20 . Jahrhunderts und tief vertraut mit der deutschen Musik, Philosophie und Literatur, wird in namenlosem Entsetzen nie wieder ein Wort über Deutschland und dessen Kultur schreiben. Er wird sich weigern, den Deutschen und deren Kollaborateuren jemals zu verzeihen, auch mit den Autoren, die (wie Camus, Beauvoir und Sartre) ihre Bücher und Theaterstücke
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