Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
Mittelmeeridee nicht den rechten Ideologen überlassen und unternimmt dafür mehrere halsbrecherische Manöver.
Im ersten Zug unterscheidet er zwischen einem guten griechischen und einem bösen lateinischen mittelmeerischen Geist. Den guten nennt er «griechische Mediterranität», den bösen «römische Latinität». [74] Den guten hält er für bescheiden und multikulturell, den bösen für nationalistisch und imperialistisch. Franco und Mussolini sind natürlich nationalistisch, imperialistisch und deshalb: römisch. Camus’ Mittelmeerutopie ist kosmopolitisch und antiimperialistisch und deshalb: griechisch.
Im zweiten Zug muss er das Problem umschiffen, dass das Prinzip Mittelmeer zwar das beste der Welt ist, jedoch im nördlichen Klima nicht gedeiht. Zwei Monate, so erzählt Camus seinen Zuhörern im Kulturhaus, sei er durch «Zentraleuropa» gereist, durch Deutschland und Österreich, und er sei schrecklich bedrückt gewesen von den Leuten, «die immer bis zum Hals zugeknöpft waren» und nicht wussten, «was Freude ist». Den mediterranen Menschen erkenne man an seinem «Geschmack am Leben». Der Deutsche rufe immer gleich «Heil Hitler». Eine Mediterranisierbarkeit der Deutschen hält Camus für wenig wahrscheinlich:
«Jeder, der einmal in Deutschland und in Italien gelebt hat, weiß, dass der Faschismus nicht das gleiche Gesicht in den beiden Ländern hat. Man spürt es überall in Deutschland, sieht es in den Gesichtern, auf den Straßen der Städte. Dresden, eine Militärstadt, erstickt unter einem unsichtbaren Feind. In Italien spürt man sofort den Unterschied. Dem Deutschen sieht man auf den ersten Blick sein Hitlertum an, er sagt nicht ‹Guten Tag›, sondern ‹Heil Hitler›. Der Italiener ist gesellig und fröhlich. Das Dogma tritt in den Hintergrund – es gehört zu den Wundern des Mittelmeers, dass es seinen Bewohnern erlaubt, menschlich zu bleiben und ohne Unterdrückung in einem Land zu leben, das unter unmenschlichen Gesetzen steht.» [75]
Neben den populären Stereotypen der Völkerpsychologie hat der debütierende Kulturfunktionär noch ein überraschendes Argument parat, um sein Publikum von der Überlegenheit der mediterranen Kultur über die europäische (beziehungsweise deutsche) zu überzeugen. Das Beste am mediterranen Genie entspringe aus dem im Mittelmeerraum einzigartigen Zusammentreffen von Orient und Okzident. [76] Und damit kam der junge Genosse zum eigentlichen Ziel seiner Rede: Die mediterrane Bewegung, deren Speerspitze in der Person des Redners gerade auf der Bühne des Kulturhauses stand, soll eine die Gegensätze des Orients und des Okzidents überwindende Weltgesellschaft hervorbringen, die Mittelmeerkultur das Modell für den Kosmopolitismus des neuen Zeitalters sein.
Diese Rede ist nicht in die Literaturgeschichte eingegangen. Doch was Camus am 8 . Februar 1937 im Kulturhaus in Algier in der Rue Charras 8 zum ersten Mal vorträgt, ist das kulturgeschichtliche Schisma, mit dem er sich in Zukunft die Welt erschließt. Hier: Rom, der cäsarische Imperialismus, die abendländische Geschichtsphilosophie, der Hegelianismus, der Marxismus, der Fortschrittsglaube, die Intoleranz, die Maßlosigkeit, der Materialismus, die Engstirnigkeit, der Egoismus, die Kälte, der Hitlergruß. Dort: Griechenland, der weltoffene Regionalismus, die orientalischen Weisheitslehren, die Einfachheit, die Toleranz, die Bescheidenheit, die Heiterkeit, der Gemeinschaftssinn, die Sonne – das Mittelmeer. Und keine Brücke dazwischen.
Im Kulturhaus wird Camus nicht mehr oft auftreten. Die von ihm bevorzugte Bildungsanstalt bleibt das Theater. Das von ihm gegründete «Théâtre du Travail» gibt seine Vorstellungen in der Salle Padovani, einem großen, auf Pfählen errichteten Vergnügungslokal, das sich am Strand von Bab-el-Qued zum Meer hin öffnet. Das Meer war auch der Bühnenhintergrund für die erste Inszenierung der kommunistischen Laienbühne: die «Zeit der Verachtung» nach dem Roman von André Malraux, der Camus 1935 in Algier mit seinem Vortrag begeistert hatte.
Die Premiere im Januar 1936 besuchten zweitausend Zuschauer. In einer Szene erhob sich das Publikum und sang mit den Schauspielern die Internationale, begleitet vom Rauschen der Wellen, die am Strand ausrollten.
Ein großer Erfolg für den Regisseur Albert Camus, dem zu seinem Glück nur noch ein Studienabschluss fehlte. Um zur Universitätsprüfung zugelassen zu werden, ließ Camus sich von einem Amtsarzt
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