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Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Titel: Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Radisch
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im besetzten Paris herausbringen, wird er keine Nachsicht haben. «Die Menschen sündigen, und nichts passiert, und die Feuer des Himmels stürzen nicht auf den Sünder herab», [70] schreibt der Philosoph, bevor er 1985 tief enttäuscht und unversöhnt mit seiner Zeit stirbt.
    Als Jean Grenier auf den Vladimir-Jankélévitch-Lehrstuhl in Lille wechselt, passiert ebenfalls nichts – keine Feuer stürzen vom Himmel, und auch sein junger Nachahmer «im geistigen Sinne des Wortes» enthält sich jeden Kommentars. Grenier wird auf dem Lehrstuhl seines jüdischen Vorgängers an einem Buch über die buddhistische Weltentsagung und das «Wou-Wei», das taoistische Axiom des Nicht-Handelns, schreiben. Sein fatalistisches Credo, dem wir in Camus’
Sisyphos
wiederbegegnen werden, lautet seither: «Die Dinge arrangieren sich von selbst, es genügt, dass wir nicht eingreifen». [71]
    Der Briefwechsel zwischen Schüler und Meister in den Jahren des Holocaust ist ein Meisterwerk der Unverbindlichkeit. Die beiden schicken einander Manuskripte, Ziegenkäse, eingelegte Champignons und gute Wünsche. Sie debattieren über das Absurde an und für sich («Das absurde Leben führt nicht zwangsläufig zum Selbstmord») und über die Ewigkeit der Seele bei Spinoza. Den Lehrstuhl in Lille, den er der deutschen Judengesetzgebung verdankt, erwähnt Grenier in einem Nebensatz: Er habe zwischen Algier und Lille geschwankt und sich schließlich «für das Unbekannte» entschieden. Immerhin meldet er im August  1942 , «die Ereignisse» hätten ihn sehr berührt, und um die «moralische Atmosphäre» in Lille stehe es nicht zum Besten.
    In seinen Erinnerungen an Camus aus dem Jahr  1968 wird Grenier die «natürliche Zurückhaltung» und «Kälte» seines Schützlings rühmen, der sich gescheut habe, über Intimitäten zu sprechen. [72] Und Camus wird mit unbeirrbarer Treue an diesem Lehrer festhalten. Sechs Tage vor seinem Tod schreibt er den letzten Brief an Grenier. Das letzte Wort darin lautet «cœur» – Herz. Der Antwortbrief Greniers vom 1 . Januar 1960 hat Camus nicht mehr erreicht. Das letzte Wort darin: «Lourmarin».
    Das südfranzösische Dorf, auf dessen Namen Camus in den Büchern Greniers zum ersten Mal stößt, beheimatet für den Lehrer wie den Schüler den mittelmeerischen Geist; ein Ort, frei vom Getöse Europas. Grenier schwärmt in seinen Essays über Lourmarin: «Der Kontakt mit der Volksweisheit des Mittelmeers kann den Menschen erneuern. Das Mittelmeer ist lebendiger als jede politische, soziale oder religiöse Revolution.» [73] Camus hat sich von Grenier, dem Ersatzvater, Lehrer und Vorbild, anstecken lassen: Die Mittelmeerutopie ist für Lehrer und Schüler die einzige Alternative zu den Totalitarismen ihrer Epoche. Das Mittelmeer wird zur Erlösungsmetapher – zum Ausweg aus der Sackgasse des 20 . Jahrhunderts.

Die neue Mittelmeerkultur
    Am 8 . Februar 1937 hält Camus einen Vortrag in der Maison de la Culture in Algier, deren Sekretär er im Auftrag der kommunistischen Partei geworden ist. Der algerische Gouverneur Maurice Viollette hat die Parole ausgegeben, die Rechte der arabischen Eliten in Algerien zu stärken. Camus und sein Freund Claude de Fréminville greifen dies auf und setzten sich für eine französisch-arabische Annäherung ein, die weit über das in Frankreich akzeptierte Maß hinausgeht. Ein Jahr nach dem Mittelmeervortrag Paul Valérys in Algier nennt Camus seinen ersten kulturpolitischen Text «La culture indigène. La nouvelle culture méditerranéenne» («Die ursprüngliche Kultur. Die neue Mittelmeerkultur») – ein Vortrag voller Pathos, Poesie, Überschwang und Hoffnungstaumel. Immer wieder wird er zu den Ideen dieses mediterranen Urprogramms zurückkehren.
    Dabei begibt sich Camus auf vermintes Gelände. An den Küsten des Mittelmeeres herrschen Unterdrückung und Diktatur. Mussolini, den der Kulturdiplomat Valéry hofiert, hat zwei Jahre zuvor Äthiopien überfallen. In Spanien tobt der Bürgerkrieg. Frankreich feierte sieben Jahre zuvor den hundertsten Jahrestag seiner militärischen Besetzung Algeriens. Und reaktionäre sowie antisemitische französische Intellektuelle wie Charles Maurras und Louis Bertrand begrüßen die Diktatoren im Mittelmeerraum als legitime Erben des Imperium romanum.
    Es bedarf einiger Geschicklichkeit, die mittelmeerische Festtagsrhetorik Jean Greniers und Paul Valérys mit den Realitäten zu versöhnen. Camus versucht das Unmögliche. Er möchte die

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