Canale Mortale (German Edition)
Markusbeckens und dem Blick auf San
Giorgio fasziniert und holte ihre Kamera heraus. An einem der Häuser am Ufer
entdeckte sie den Namen dieses Abschnitts: Riva dei Sette Martiri, das Ufer der
sieben Märtyrer. Der Name zog sie merkwürdig an. Der Gemäldezyklus vom
Martyrium der heiligen Ursula aus dem Accademia-Museum fiel ihr ein, und sie
fragte sich, weswegen diese Märtyrer wohl gestorben waren. Sie hatte gar nicht
gewusst, dass es in Venedig Märtyrer gegeben hatte. In ihrem Venedig-Führer
stand nichts darüber, und der Name des Ufers wurde auch nicht erklärt. Sie
würde abends Jana oder Octavia fragen.
Als sie das Boot vom Lido herüberkommen sah, beeilte sie sich, um
noch rechtzeitig zur Haltestelle zu kommen. Im Vorbeigehen sah sie flüchtig
eine große Skulptur auf flachen Stelen im Wasser liegen. War es ein schlafender
Mann oder eine Frau? Ein Kunstwerk? Es hing vielleicht mit der Biennale
zusammen.
Das Boot, das bei den Giardini anlegte, war überfüllt, brachte sie
jedoch, ohne dass sie umsteigen musste, zur Anlegestelle Accademia zurück. Auf
der Bootsfahrt ging ihr durch den Kopf, dass die Zahl der elftausend Jungfrauen
der heiligen Ursula, so hieß es, aufgrund eines Schreibfehlers zustande
gekommen war. Wahrscheinlicher war, dass Ursula, wenn es sie überhaupt gegeben
hatte, mit elf Begleiterinnen gereist war. Welches Martyrium hatte man wohl für
die sieben Christen vom Riva dei Sette Martiri ersonnen? Und warum waren es
gerade sieben?
Plötzlich erschrak sie. Sieben Märtyrer. Hatten sie womöglich etwas
mit der Unterschrift »7 M « unter den Briefen
zu tun? Dem musste sie unbedingt nachgehen. In Gedanken versunken, verließ sie
den Vaporetto.
Als sie an der Accademia-Brücke vorbeiging, glaubte sie, jemanden
wiederzuerkennen. Einen Mann, der etwas langsamer als die anderen Menschen die
Stufen herabstieg. Er ging zögerlicher und mühsamer. Es war Guido, den sie
schon am Morgen gesehen hatte. Venedig ist das reinste Dorf, ständig begegnet
man den Leuten des Viertels, dachte Antonia. Sie ging ein paar Schritte zurück
und tat so, als wolle sie an dem grünen Zeitungskiosk am Fuß der Brücke etwas
kaufen. Dabei blickte sie unauffällig in Guidos Richtung. Janas Onkel wandte
sich nach links, und Antonia, von Neugierde getrieben, folgte ihm vorsichtig.
Nach fünfzig Metern bog er in eine Gasse ein, die Antonia sehr gerne mochte. Es
gab dort ein Haushaltswarengeschäft, einen Schuhladen, eine Confiserie, ein Geschäft
für Bekleidung und eine gut besuchte Kaffeebar, lauter Läden, die, im Gegensatz
zu denjenigen in den touristischen Vierteln jenseits der Brücke, vor allem von
Einheimischen besucht wurden. Sie verlangsamte ihren Schritt, um ein Stück
hinter Guido zurückzubleiben, betrachtete die Auslagen in den Schaufenstern und
sah, wie er die Bar betrat.
Dort machte man einen vorzüglichen Kaffee, Antonia hatte auf ihren
früheren Streifzügen hier auch schon ein paarmal Halt gemacht. Die Leute aus
dem Viertel schichteten sich in raschem Wechsel immer wieder um, weil alle nur
eben einen Espresso oder ein Hörnchen nahmen und dann wieder ihren Geschäften
nachgingen. Sie blieb draußen vor der Bar stehen und tat so, als studiere sie
ihren Stadtplan. Durch die großen Fensterscheiben konnte sie erkennen, wie
Guido sich an einem der Tische im Hintergrund niederließ. Dort saß schon ein
anderer Mann, der ihn offenbar erwartet hatte.
Rasch trat sie ein und stellte sich, da Guido mit dem Rücken zu ihr
saß, neben andere Besucher an den Tresen. Sie bestellte einen Cappuccino, und
die Padrona schmetterte: » Un Cappuccio !«
in Richtung Kaffeemaschine, kassierte und wandte sich schon dem nächsten Gast
zu. Stammkunden riefen ihre Bestellung bereits beim Eintreten in Richtung
Tresen, legten das abgezählte Geld hin, tranken den Espresso in zwei, drei
Schlucken und gingen wieder. Antonia war von dieser Dynamik so begeistert, dass
sie darüber Guido fast vergessen hätte.
Sie hob die Cappuccinotasse an den Mund und schielte über den Rand
hinweg in seine Richtung. Er trug wieder das hellgraue Sakko, in dem sie ihn
schon am ersten Tag gesehen hatte. Der Mann neben ihm trug ein blau-weiß
gestreiftes Sweatshirt, an der Rücklehne seines Stuhls hing eine rostfarbene
Lederjacke. Er war untersetzt und kahlköpfig, wurde aber immer wieder von den
hereinströmenden Gästen der Bar verdeckt, sodass Antonia ihn nicht genau sehen
konnte. Er schien erregt, denn er redete heftig gestikulierend auf Guido
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