Canale Mortale (German Edition)
zeigt die Angst und den Schrecken
der Jungfrau …«
Antonia war beeindruckt. Jana beugte sich weiter vor.
»Und schau nur, die Taube gleicht eher einem Raubvogel, der sich von
oben auf Maria stürzt. Und sieht der Engel nicht auch ein bisschen aus wie ein
großer Raubvogel?«
Tatsächlich glichen seine Flügel eher den riesigen Schwingen eines
Vogels. Auf Jana schien die Szene eine eigenartige Wirkung zu haben. Antonia
sah mit Erstaunen, wie sich ihre Augen, während sie sprach, halb schlossen. Sie
hatte den Kopf ein wenig in den Nacken gelegt, ihr Mund stand leicht offen, und
ihre Wangen hatten sich gerötet.
»Eine Empfängnis als gewaltsamer Akt? Eher ist doch die Geburt das
eigentlich Gewaltsame«, wandte Antonia vorsichtig ein.
»Ja, aber sie ist schließlich Jungfrau. Die Defloration setzt ja
auch ein gewaltsames Eindringen voraus. Dies wird durch den zarten Schleier
angedeutet, den sie zwischen sich und den Engel hält.«
Jana hatte jetzt wieder lauter gesprochen, und Antonia bemerkte, wie
sich zwei elegante ältere Damen näherten. Sie trugen den für weibliche Bildungsbürger
der gehobenen Mittelschicht üblichen grauen Pagenkopf, verstanden offenbar
Deutsch und schienen sich für Janas Ausführungen zu interessieren. Jana hatte
sie aus dem Augenwinkel gesehen und dozierte weiter:
»Und so etwas wie die Geburt deutet sich übrigens auch oben in dem
Gewimmel von Putten an. Wenn du nach oben schaust, sieht es aus, als ob das
rötliche Köpfchen des kleinen Engels hier gerade aus einer Vagina tritt.« Jana
wies auf das Wolkengebilde am oberen Rand des Bildes.
»Und diese Deutungen sind in einer kunsthistorischen Untersuchung
möglich?«, fragte Antonia.
Jana machte bei ihrer Antwort eine bedeutende Miene und schloss die
beiden Damen als Publikum ein. »Mein Dozent, Professor Marconi, möchte keinen
neuen Aufguss der vielen bekannten Tizian-Lesarten, daher bin ich mit etwas
Frischerem unterwegs. Morgen besuchen wir die Frari-Kirche. Dort hängt das
andere berühmte Bild Tizians, die Himmelfahrt Marias. Ich deute sie als
Ekstase, auch als sexuelle Ekstase.«
Die beiden älteren Damen, Schweizerinnen dem Vernehmen nach, zeigten
großes Interesse. Eine der beiden wandte sich direkt an Jana:
»Pardon, könnten wir uns Ihnen vielleicht anschließen? Wir wollten
morgen auch in die Frari-Kirche …«
Ihre Begleiterin bekräftigte: »Ja, das wäre wunderbar. Wir fanden
Ihre Ausführungen sehr interessant.«
»Du hast die beiden anscheinend ziemlich beeindruckt«, flüsterte
Antonia ihrer Freundin zu. Die kleinere der beiden Schweizerinnen wurde jetzt
tatsächlich ganz enthusiastisch.
»Wir haben in dieser Woche schon so viele trockene Führungen über
uns ergehen lassen müssen, endlich eine neue Perspektive auf Tizian!«
Dabei hielt sie Jana eine Visitenkarte hin. »Falls Sie für private
Führungen zur Verfügung stehen, würden wir uns sehr freuen. Sie können den
Stundensatz selbst bestimmen.«
Jana nickte erfreut und verabredete sich mit den Damen für den
nächsten Tag am Eingang der Frari-Kirche. Dann musste sie zu einem Seminar in
die Universität, und Antonia brach zu ihrer eigenen Unternehmung auf. Auf der
Brücke drehte sich Jana noch einmal um und rief ihr zu: »Kommst du heute Abend
ins ›Già Schiavi‹? Ich bin ab sieben Uhr dort!«
»Auf jeden Fall!«
Für einen Moment schoss ein Paar melancholischer Augen durch
Antonias Kopf, und ihr Herz machte einen kleinen Sprung. Voller freudiger
Energie ging sie zum Canal Grande zurück und wartete auf die Linie 1. Sie
wollte heute das Castello-Viertel erkunden.
An der Haltestelle Arsenal stieg sie aus, überquerte eine Brücke,
auf der eine Gruppe junger Afrikaner gefakete Taschen von Gucci und Prada
anboten (»Kaufen, Miss, kaufen?«) und bog in die Via Garibaldi ein. In einer
abgelegenen Trattoria aß sie eine Kleinigkeit zu Mittag. Als der Kellner den
Espresso brachte, faltete sie ihren Stadtplan auseinander, um zu sehen, wie
weit es bis zur Riva degli Schiavoni war. Sie wollte dort entlang bis zum Hotel
Danieli spazieren, weil Jana ihr den Ausblick von der Dachterrasse des
Luxushotels empfohlen hatte. Der Kaffee sei dort zu teuer, sie solle, wenn sie
den Blick genossen hätte, einfach so tun, als habe sie es sich anders überlegt,
und wieder gehen. Am Ende der Via Garibaldi entschied Antonia sich jedoch, nach
links in Richtung Biennale-Gelände zu spazieren. Die Promenade war hier weniger
belebt.
Antonia war von der Weite des
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