Canale Mortale (German Edition)
fragte quer durch den Raum, ob
Antonia auch noch etwas trinken wolle. Antonia verneinte.
Luca sah bei Janas Frage zu ihr herüber, und sein Blick schien sich
dabei in ihre Augen hinabzusenken. Für ein paar Sekunden hatte sie das Gefühl,
eine große Stille breite sich um sie herum aus. In Lucas Augen lag die
Melancholie eines Menschen, der nicht viel Hoffnung hegt, dass sich sein Leben
noch einmal ändern wird. Dann kehrte der Lärm zurück. Luca griff nach der
Flasche Aperol und bereitete routiniert Janas Getränk zu. Antonia sann seinem
Blick nach. Als habe sich die Trauer von Jahrhunderten auf dem Grund dieser
Augen abgelagert. Gleichzeitig war so etwas wie Interesse an ihr in ihnen
aufgeglommen. Diese seltsame Stadt brachte seltsame Menschen hervor, dachte
sie.
Jana unterbrach ihre Gedanken und bat sie, ihr nach draußen zu
folgen, um den Aperitif in der Abendsonne zu genießen. Als sie ihr Glas auf der
Kanalmauer vor der Bar absetzte, brachte sie das Gespräch auf die Drohbriefe.
»Mama hat mir gesagt, dass sie dir die Briefe gezeigt hat. Was
hältst du von der Sache?«
Antonia zögerte. Sie sprach mit Ausnahme von Florian ungern mit
anderen über ihre Arbeit.
»Ich habe keine Ahnung. Aus den Briefen selbst ist ja nicht viel zu
schließen.«
Sie wartete Janas Reaktion ab. Diese zuckte aber nur mit den
Schultern und sagte: »Mama will sie mir nicht zeigen. Außer dir hat sie noch
kein anderer gesehen. Sie will alles möglichst unauffällig halten, damit
Großvater nichts davon erfährt …«
Ihr Gespräch wurde unterbrochen, weil sich Florian zusammen mit dem
holländischen Gastprofessor und zwei Kollegen aus der Orgelklasse zu ihnen
gesellte. Zu sechst gingen sie in den Schankraum zurück, und der gut gelaunte
Holländer bestellte für alle eine Runde Prosecco. Luca schaute nicht mehr zu
Antonia herüber. Er sprach mit den Gästen und verrichtete die Handgriffe, die
er tagtäglich verrichtete. Die Gruppe leerte ihre Gläser und beschloss,
zusammen essen zu gehen. In der nahe gelegenen Pizzeria »Casin dei Nobili«
klang der Abend mit viel Gelächter, Wein und Pasta aus.
5
»Sie müssen sich unbedingt unseren Tintoretto ansehen. Das
Prunkstück unserer Kirche!«, rief Don Orione, als er Antonia und Florian im
Mittelschiff seiner Kirche entdeckte. Die beiden waren nach dem Frühstück zur
Kirche San Trovaso hinübergegangen, um den Priester zu besuchen.
Die Kirchentür war offen gewesen und niemand im Inneren zu sehen. Es
roch nach dem Wachs abgebrannter Kerzen, nach Weihrauch und alten Stoffen. Aus
einem Lautsprecher dudelte pseudoklassische Musik. Florian hielt sich die Ohren
zu, weil er schlechte Musik nicht ertragen konnte. Gerade als Antonia ihn
fragen wollte, ob sie wieder gehen sollten, kam Don Orione aus der Sakristei
und begrüßte sie überaus herzlich. Dann drängte er sie zu einem Seitenaltar und
wies auf den Tintoretto.
Das Gemälde zeigte Jesus und die Jünger beim letzten Abendmahl. Don
Orione hob stolz die Hände. »L’ultima cena! Schauen Sie es sich an! Es sind
lauter Gegenstände des Alltags auf diesem Bild zu sehen. Der Korbstuhl, das
Tongeschirr … Christus als einer von uns, wollte der Maler uns sagen. Es ist
wunderbar, nicht wahr?«
Florian lobte das Bild in höchsten Tönen, vielleicht weil er sich
dadurch bei Don Orione dafür entschuldigen wollte, dass er sich die Ohren
zugehalten hatte. Auch Antonia zeigte sich begeistert, obwohl sie fand, dass es
einen besseren Platz als diese Seitenkapelle verdient hatte. Don Orione
erzählte ihnen ausführlich und mit lebhafter Gestik, wie das Gemälde in die
Kirche gekommen war, und Antonia wollte ihn gerade fragen, ob er Carpaccios Bild
vom »Traum der heiligen Ursula« kenne, als sich der Priester schon wieder
geschäftig abwandte. Ein Brautpaar warte auf ihn.
»Sie wollen mit mir ihre Hochzeit besprechen. Der Bräutigam ist
übrigens der jüngste Bruder von Flavia, der neuen Angestellten des Conte.
Andrea, ein sehr sympathischer junger Mann. Dass die beiden Verlobten schon
lange zusammenleben, darüber sehe ich hinweg, aber was mich ärgert, ist die
Dummheit, dass sie sich hoch verschulden, um eine große Hochzeit feiern zu
können. Bescheidenheit ist unter jungen Menschen kaum noch verbreitet, dio mio,
was für grässliche Zeiten, in denen wir leben …«
Don Orione ging auf den Eingang zu, durch den gerade ein junges Paar
eintrat, und verschwand laut palavernd mit den beiden in einer Tür neben dem
Hauptaltar. Draußen vor dem
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