Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)
drüber in den Ferien.«
»Renate«, sagte ich. »Du wirst erwachsen. Du weißt vielleicht noch nicht richtig, welche Werte, ich meine, du weißt noch nicht richtig, was du willst.«
»Ja, stimmt. Ich weiß nicht, was ich will.«
»Genau.«
»Ich muss es herausfinden«, erwiderte sie.
Wir starrten uns an. Wir hätten uns gegenseitig die Köpfe einschlagen können, wir waren so nahe dran, beide. Aber wir rührten uns nicht.
»Du kannst immer mit uns sprechen«, sagte ich.
Ich ging zur Tür. Drehte mich noch einmal um.
»Ich meine jederzeit. Gut? Sag bitte etwas, Renate! Gut?«
Nein, sie sagte nichts. Ich zog die Tür hinter mir zu.
Als ich am nächsten Morgen aufstand, waren beide weg. Im Badezimmerschrank, hinter meiner Bodylotion, fand ich einen Zettel von ihr.
Ihr versteht mich nicht. War schon immer so. Von euch kann ich nichts anderes erwarten. Wenn wir aus dem Tessin zurück sind, werde ich bei Steffi bleiben. R.
Den Zettel von ihm fand ich im Brotkasten.
Ich weiß, dass du Bescheid weißt. Es ist nicht einfach für dich. Aber es ist so. Warum ich weine? Ich weine um die Welt, besser kann ich es dir nicht erklären. Ich will die Welt verstehen, ich will, dass die Dinge beieinanderbleiben, doch sie tun es nicht. Alles fällt auseinander, und ich kann nichts dagegen unternehmen. Also weine ich. Jede Woche einmal. Bitte, lass es mir. Bin ein paar Tage bei meinem Bruder. Alles Liebe, Edgar
Wir sind ganz normale Leute. Wir mögen unsere Arbeit, unser Haus, unsere Freunde. Wir mögen nicht alle unserer Nachbarn, aber die meisten. Wir gehen jedes Jahr ins Elsass, weil es da so normal ist, wir lesen normale Bücher und kochen normale Gerichte. Wir haben eine Tochter, die fünfzehn ist. Wir verstehen sie nicht mehr, sie wird uns immer fremder, und es gibt Dinge, die sie uns nicht erzählt, aber das ist eben so, sagt mein Mann. Sie liest Zeitschriften, in denen Menschen vorkommen, die nicht ihre Vorbilder sein sollten, sie zieht Sachen an, mit denen ich nicht einverstanden bin. Das ist eben so, ja, Edgar, ich verstehe schon. Doch was ist das für eine Kraft, die uns auseinanderreißt?
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich vor dem Brotkasten stand. Auf dem Fenstersims landete eine Elster, wiegte zuckend ihren pechschwarzen Kopf, Tautropfen verdunsteten im Garten, die Sonne jagte einen klobigen Schatten um unser Haus herum. Und irgendwann setzten sich meine Beine von allein in Bewegung. Ich trat aus der Haustür. Vorne auf der Straße ging der Dorfstrolch vorbei. Er war in eine orange Arbeitsmontur gehüllt. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Sein Kopf wackelte weich auf dem Hals, er schien ein Selbstgespräch zu führen. Ich hatte ihn auch noch nie reden gehört. Der hat seine Welt, dachte ich, und keiner wird sie ihm je wegnehmen. Ich schaute ihm zu, bis er nicht mehr zu sehen war, dann bewegte ich mich in Richtung Garten. Ich trat an den Schuppen heran, öffnete den Verschlag. Ein Wald von Harken, Spaten, Rechen. Der Handrasenmäher, Übertöpfe, Untertöpfe. Und die leere Gemüsekiste. Ich schloss den Verschlag, tappte mit den Händen im Dunkeln herum, ertastete die Kiste.
Kaum hatte ich mich hingesetzt, kam es. Sanft, aber unaufhaltsam. Kleine, dumpfe Lautflecken schwirrten durch die Dunkelheit, es knirschte auf dem sandigen Boden, Tränen perlten von meinem Kinn. Der Tag löste sich auf, und es gab kein Oben und kein Unten mehr. Als ob das Ende der Zeiten gekommen wäre.
Zugzwang
Ich habe immer nur ein Bier genommen. Nach dem letzten Schluck sofort wieder nach Hause, ohne Ausnahme. Wenn ich in meinem verpfuschten Leben etwas gelernt habe, dann dies: Streng mit sich selber sein, sonst ist es zu früh zu spät. Also immer nur ein Bier, bis zum Ende aller Tage.
Und Heinz? Niemand weiß es, nicht mal die Katzige. An jenem Tag saß er bei ihr, als ob es nie anders gewesen wäre. Vor sich das Glas, irgendwo zwischen voll und halb leer. Als er bei halb leer angekommen war, machte er mit dem nächsten Schluck ganz leer, ließ das Glas mit dem gekippten Schaumrand in der Luft tanzen und machte einen blöden Spruch: »Katzige, tust du mir bitte die Luft hier raus?« Eine halbe Minute später stand ein neues Glas vor ihm. Keiner konnte es glauben, keiner, der ihn vorher gekannt hatte.
Heinz war schon immer da gewesen. Ich hatte seine Geschicke stets nur aus der Ferne verfolgt, denn etwas in mir wusste, dass er mir zu sehr ähnelte und ich ihn deshalb meiden sollte. Nichts in mir wusste hingegen, dass Heinz
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