Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)
Denn irgendwo, das habe ich in meiner vermurksten Laufbahn gelernt, irgendwo muss man sich festhalten, in dem ganzen Nichts braucht man zwei Griffe, die einen daran hindern, zu Boden zu gehen. Zweimal fliegender Humpen, wohl bekomm’s.
Die Hirscheneck war damals die einzige Trinkstelle, die noch infrage kam. Kurz zuvor waren im Dorf gleich zwei Restaurants geschlossen worden. Der Löwen war immer zu schick für die Biertrinker und am Schluss zu wenig schick für jene Leute gewesen, die seine Gäste hätten sein müssen. Der Wirt vom Eichhörnchen hatte sich in den Bankrott gesoffen. Übrig geblieben waren der Müllerhof, wo Politik gemacht wurde, und eben die Hirscheneck, ein Haus ohne Gesicht. Die Innenausstattung aus den sechziger Jahren war nie erneuert oder aufgefrischt worden, und auch die Menüs waren die gleichen wie damals: Schweinswurst im Speckmantel, Fleischvogel an Jägersoße, Zander im Bierteig, alles mit reichlich Zahnstochern gespickt. Vielleicht war die Hirscheneck gerade deshalb beliebt – kein Speiselokal, das man sich gegenseitig empfahl, man ging einfach hin und brauchte darüber nicht nachzudenken. Freilich, für die Biertrinker war die Katzige mit dem Raubtierblick durchaus ein Grund. Aber das zählte am Abend nicht mehr, wenn der Wirt den wahren Umsatz machte. Die Leute konnten hier essen, ohne dass sie allen die Hand schütteln mussten wie im Müllerhof, danach einen Absacker nehmen und nach Hause gehen.
Heinz selbst war nie in einem Restaurant gewesen. Als Knecht war er früh aufgestanden, hatte bis zum Eindunkeln gearbeitet und dann vielleicht noch eine Sendung geschaut in Hartmanns Stube. Auf jeden Fall immer früh zu Bett. Weil er ja am nächsten Tag wieder früh aufstand. Er wollte nie etwas anderes. Wenn gemolken werden musste, molk er, wenn der Klauenschneider kam, half er beim Klauenschneiden, und wenn der Platz vor dem Stall dreckig war, wischte er.
Jetzt gab es keinen Hof und keine Stube mehr, und vielleicht stand Heinz bloß an der Straße, weil er nicht wusste, wie das geht: hinein in die Wirtsstube, das leere Glas in der Luft tanzen lassen, bei der Katzigen ein paar Sprüche machen. Bald schien es, als ob er immer näher bei der Hirscheneck stünde, denn jedes Mal kam mir die Zeitspanne zwischen meinem gütigen Lächeln und meiner Ankunft in der Hirscheneck kürzer vor. Möglich, dass etwas in mir zu begreifen begann, dass sein Warten und seine Grimasse kein Hilferuf, sondern eine Aufforderung waren, mit ihm zusammen in der Wirtsstube die Welt auf den Kopf zu stellen. Doch ich hatte Angst vor ihm, und ich wollte die Welt so, wie sie war, deshalb verkroch ich mich lieber im Haus, als einmal zu viel nach draußen zu gehen.
Ich hatte das Haus damals von den Eltern geerbt, und seine obere Hälfte war schon lange unbenutzbar. Wenn ich mit den Händen im Schoß dasaß, kratzte und wuselte es ständig, die Wände bewegten sich langsam Richtung Boden, in den Ecken bildeten sich kleine Geröllhalden. Aber das Darben hatte nicht nur mein Haus ergriffen. Fabrizierte ich beim Gang in die Hirscheneck auf Heinz’ Höhe ein Lächeln in mein Gesicht, sah ich die ehemaligen Gastwirtschaften Löwen und Eichhörnchen, die wie ausgetrocknete Geschwüre an der Straße standen. An anderen Orten hatte sich das Dorf erneuert, heiter getünchte Wohnwürfel waren gebaut worden, deren Bewohner am Sonntag ihre Gärten striegelten und wochentags im Kombi zur Arbeit in die Stadt fuhren. Ihre geölte Zuversicht verstärkte nur meinen Trotz. Ich hockte in meinem Haus wie ein alter Dachs in seinem Bau, ich sprach mit keinem, aber jeder im Dorf wusste Bescheid über mich. Jeder wusste, dass ich diese Körbe flocht und alle zwei Monate auf einen Markt fuhr, um sie zu verkaufen. Ich nahm nie irgendwo teil, und doch war ich aufgehoben. Ja, aufgehoben ist das richtige Wort.
Wäre mir in dieser Zeit ein Gedanke gelungen, hätte ich ihn den Geschwulsten auf dem Körper des Dorfes und dem Knecht auf dem Abstellgleis gewidmet. Ich hätte mich gefragt, was mit solchen wie Heinz und mir passierte, solchen Verlorenen, Armseligen im Geiste. Aber ich wagte keinen Gedanken. Ich hatte das nie gelernt, mit diesem Vater, der einem den Mut abgebunden hatte wie ein überflüssiges Gliedmaß. Einem Vater, der von einem Tag auf den anderen nicht mehr da gewesen war und dessen Erbe meinen Bruder und mich uns gegenseitig die Köpfe einschlagen ließ. Seit achtundzwanzig Jahren gab es nur noch mein Haus, die Straße, die
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