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Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Titel: Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Steiner
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Hirscheneck. Seit achtundzwanzig Jahren wartete ich auf den Hauch, der alle meine Fragen neutralisierte, der Antwort auf alles wäre.
    Wenn ich dasaß und wartete, rieselten zahllose Bilder wie ein trostloser Landregen durch meinen Kopf. Nur selten konnte ich eines von ihnen festhalten, wie dasjenige vom ehemaligen Eichhörnchenwirt. Mit seiner Plastiktüte, in der sich die Weinflaschen abzeichneten, zog er manchmal seine Runden durchs Dorf, und wenn er einem begegnete, konnte man nicht anders, als ihm hinterherzuschauen: erst die Ausfallstraße einschlagend, später einen Feldweg, steuerte er auf einen Hügel zu, seine Gestalt im gebürsteten Grün der Wiese immer kleiner werdend, um schließlich hinter dem Hügel zu verschwinden. Und man stellte sich hinter dem Hügel einen alleinstehenden Baum vor, zwei bastgeschürzte Flaschen in der Wiese, die Tüte, schließlich den Wirt selbst, im Schatten des Baums schlafend, auf seinem Gesicht eine Fliege, kleine Zufallsmuster tänzelnd. Und man dachte: einsamer alter Eichhörnchenwirt. Doch wer wusste schon, ob er einsam war. Vielleicht war er aufgehoben wie nie unter seinem Baum. Vielleicht musste man sich in den Bankrott saufen, um alle Fragen zu neutralisieren.
    So verging die Zeit, und ich bemerkte noch immer nicht, dass Heinz mir längst den Weg wies. Zwei Tagesbiere zogen mich pünktlich in die Hirscheneck, und während ich an ihm vorbei zu meiner Tränke schwebte, schien mir, als ob wir beide immer durchsichtiger würden, bis ich irgendwann tatsächlich durch ihn hindurchwandelte, sein Grinsen auf mein Trauergesicht übergriff, meine Hände in seine Hosentaschen schlüpften. An jenem Tag, als wir beide auf der Straße vollends unsichtbar geworden waren und ich mich zum ersten Mal nach ihm umblickte, an jenem Tag geschah es.
    Keiner konnte es glauben, der ihn vorher schon gekannt hatte, am wenigsten ich selbst. Als ich mit dem Drei-Uhr-Schlag in die Gaststube der Hirscheneck trat, erblickte ich ihn sofort, präzise und prägnant wie die Faust aufs Auge. Er saß am Stammtisch, umringt von den vier oder fünf üblichen Nachmittagstrinkern, vor sich ein Bier, irgendwo zwischen voll und halb leer. Unten trug er eine leuchtend orange Hose, oben eine ebensolche Jacke. Er sagte: »Ich bin jetzt beim Kanton«, und zeigte auf die Brusttasche seiner Leuchtjacke. Straßeninspektorat, stand da, weiß auf orange. »Wisst ihr, da hat man schon eine Verantwortung, beim Kanton.« Und dann strahlte er.
    Er erzählte von Rissen und Schlaglöchern, von Winterfrost, ausgebleichten Mittellinien und kaputten Leitplanken. Das Bier in der Faust, wollte er nicht mehr aufhören zu reden. Heinz, der nie etwas getrunken hatte. Heinz, der nie jemandem von seiner Arbeit erzählt hatte. Der früher immer nur gemolken und gezettelt und geholzt und gewischt hatte. Über den zahllose Sprüche kursierten, der selbst aber nicht wusste, wie man einen Spruch klopfte und ihn die Runde machen ließ.
    »Ich weiß schon, was ihr denkt. Aber so ist es nicht. Beim Kanton ist es anders.«
    Kleiner Schluck.
    »Beim Kanton geht’s zack zack. Nichts mit den ganzen Tag Kaffee trinken und so.«
    Die Stammtischsitzer nickten.
    »Das wisst ihr nicht, doch wenn’s sein muss, arbeiten wir auch über Mittag. Eine abgerutschte Straße kann verheerende Folgen haben. Kürzlich hatten wir eine Unterspülung. Wir die ganze Sache herausgerissen, Fundament neu gelegt, Unterbelag, Oberbelag, Markierung, ruckzuck, alles in einem Tag. Da könnt ihr nur staunen, aber ich mach euch keinen Vorwurf. Warum solltet ihr’s besser wissen.«
    Großer Schluck.
    »Katzige, noch ein Zwischenbier für mich vor dem nächsten? Danke, Schatz.«
    Die Katzige fauchte kaum hörbar.
    Heinz nahm das neue Glas in Empfang und wandte sich mir zu. Er hielt den Kopf schräg, sagte: »Schön, dich zu sehen, Freysinger. Auf eine gute Zusammenarbeit. Prost!« Er zwinkerte und setzte an. Stellte das Glas ab und redete weiter.
    Noch eine Weile saß ich da, still an meinem Bier nippend. In meinem Kopf tat sich etwas, aber ich verstand es nicht. Schließlich legte ich das abgezählte Geld hin und ruckelte meine Beine unter dem Tisch hervor. Die Katzige schaute mir stumm nach, als ich aus der Tür verschwand. Ich trat auf die Straße, eine Elster flog an mir vorbei, eine Frau schob ihr Fahrrad über das Trottoir. Ich setzte mich in Bewegung. Schlug den Weg ein, den ich immer einschlug. Nach Hause, weil ich nach dem Bier immer nach Hause ging.
    Was tat sich in

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