Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Titel: Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Steiner
Vom Netzwerk:
ist fünfzehn. Sie ist alles andere als naiv. Aber ich weiß nicht, ob ich sie richtig, also ob sie uns versteht. Sie ist so anders. Nicht nur weil sie ein Teenager ist. Auch als Kind war sie anders. Wollte auf der Straße meine Hand nicht halten, hat nie mit uns gelacht. Heute spricht sie auf eine Weise, dass ich sie nicht mehr verstehe, oder sie spricht gar nicht. Keine Ahnung, ob sie sich über mich lustig macht. Edgar sagt immer – ach, ich weiß gar nicht, was er sagt, aber es klingt jedes Mal so verdammt vernünftig. Ich würde gerne wissen, wo er diesen unendlichen Vorrat an Vernünftigkeit herhat. Doch Edgar kann noch so viel Kluges von sich geben, mein Gefühl bleibt. Dass meine Tochter anders ist, dass sie, ich weiß nicht. Einfach anders ist. Also. Ich. Nein, das heißt, doch, ich schäme mich. Für mich selbst oder für meine Tochter, vielleicht beides. Und ich frage mich ständig: Wie kann es sein, dass wir so unterschiedlich sind? Mit Edgar spricht sie auch nicht, aber Edgar, nun, ich glaube, er versteht sie einfach besser.
    Als Edgar sich wieder hinsetzte, blickte ich noch immer zur Decke hoch. Ich wollte an einen von seinen vernünftigen Sätzen denken. Ich holte Atem wie vor einem langen Tauchgang und schloss die Augen. Es geht vorbei, dachte ich. Alles geht vorbei, auch das hier.
    Es half nichts. Alles platzte auf einmal aus mir heraus. Ich schmiss mein Besteck in den Teller und gellte: »Warum muss ich hier sitzen und dieses verdammte Carpaccio essen, als ob nichts wäre?« Ich schlug das Besteck mit Wucht in den Tisch. Die Gabel blieb im Holz stecken, das Messer knallte weg, schepperte in eine Ecke. »Und warum …«, ich hob den Teller auf, stellte ihn wieder hin, »… warum sagt mir keiner, was los ist?«
    Edgar. Sein Schweigen.
    Renate. Wasser ohne Ende.
    »Was passiert mit uns allen? Ich möchte das gerne erfahren! Warum weiß ich nichts über das Leben meiner Tochter? Und warum ist es immer so dunkel in unserem Geräteschuppen? Warum sehe ich nicht, was in diesem Schuppen Woche für Woche geschieht?«
    Das Wasser hatte aufgehört zu fließen. Edgar betrachtete still die Reste seines Carpaccios.
    »Bin ich so dumm? Sagt, bin ich dumm?«
    Schweigen.
    Ich nahm den Teller und schleuderte ihn an die Wand. Der Flug endete in einem Klirren, auf das ein feuchtes Platschen folgte. Ich senkte mein Gesicht in die Handflächen und verharrte in der Dunkelheit. Gedanken schossen als Blitze durch sie hindurch. Tief durchatmen, dachte ich. Nicht denken, nur atmen. Duck dich vor den Blitzen, lass sie über dich hinwegrasen.
    Minuten vergingen. Ich heulte nicht. Irgendwann legte sich Edgars Hand auf meinen Kopf. Lange blieb sie da liegen, und Edgar schwieg noch immer. Dann erhob er sich, sagte: »Ich räume dann mal auf.« Ich dachte, in der Dunkelheit meiner Handflächen: Nichts bringt meinen Mann aus der Ruhe. Wie schafft er das? Warum rastet er nie aus?
    Noch ein paar Minuten versteckte ich mich in meiner Dunkelheit. Dann stieg ich die Treppe hoch. In ihrem Zimmer setzte ich mich aufs Bett. Eine halbe Stunde später kam sie aus dem Bad, knallte hinter sich die Tür zu und ließ sich aufs Bett fallen. Sie landete direkt auf meinem Schoß.
    »He! Was denn?«
    Ich hielt sie an den Schultern. »Ich bin’s. Setz dich neben mich, bitte.«
    Sie stand auf und machte sich am Kleiderschrank zu schaffen. Ich sah die Abdeckcreme an ihrer Schläfe.
    »Wie auch immer er heißt«, fuhr ich fort. »Hat er dir etwas getan?«
    »Sicher nicht.«
    »Gut. Ich meine, nein. Nicht gut.«
    Sie zog ein Kleidungsstück nach dem anderen aus dem Schrank und ließ es auf den Boden fallen.
    »Renate, bitte!«
    »Ich muss packen. Für morgen.«
    »Renate, was ist passiert?«
    »Wo ist mein gelbes Pimkie-Shirt?«
    »Renate, sag jetzt!«
    »Nichts.«
    »Sag!«
    »Hab ich ja. Nichts ist passiert.«
    »Aha. Nichts. Na dann.«
    Ich erhob mich.
    »Ich hätte eben«, sagte sie. »Ich hätte. Egal.«
    »Was?«
    »Es geht dich nichts an.«
    »Ich bin deine Mutter.«
    »Eben. Darum.«
    »Aha. Na dann.«
    Ich blickte aus dem Fenster. Tief durchatmen, dachte ich.
    »Wenn es Wörter gäbe. Aber es gibt keine«, sagte sie.
    »Wie meinst du das?«
    »Du glaubst, man kann alles sagen, hm?«
    »Nein. Also ja. Was meinst du genau?«
    Mit dem Fuß wischte sie den Kleiderhaufen zur Seite.
    »Ihr mit euren Werten. Wenn ich diese Werte hätte, wäre ich die Einsamste der ganzen Schule.«
    »Was willst du damit sagen?«
    »Könnt ihr ja mal nachdenken

Weitere Kostenlose Bücher