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Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Titel: Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Steiner
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meinem Kopf? Es hatte mit Heinz zu tun, aber auch mit, womit noch? Etwas in mir wusste genau, was es war, aber ich hatte keine Worte dafür. Ich blickte suchend zum Himmel hoch, und in diesem Augenblick schoss ein gewaltiger Donner durchs Dorf, ich duckte mich, schloss die Augen und ich wusste, dass es jetzt gleich über mich hereinbrechen würde. Das, wofür ich keine Worte hatte. Das Echo des Donners verzog sich, ich öffnete langsam die Augen. Und erblickte es.
    Über mir ein Balkon, ein Geländer, ein Gesicht. Wie ein blasser Mond mit Schlitzaugen und Strichmund. Ich kannte es nur zu gut. Noch immer hatte ich keine Worte, aber nun wusste ich alles wieder, sah die ganze Niedertracht meines Lebens in dem Gesicht, die Angst und die Trauer, und ich begriff, dass ich auf der Stelle an etwas Gutes denken musste, um dieses Gesicht zu überleben. Ich schloss die Augen abermals, die Welt verschwand hinter dunklen Vorhängen. Da erinnerte ich mich an sie.
    Marisa. Eines Tages vor dreiunddreißig Jahren stand sie in der Korbwerkstatt meines Vaters, eine Sagengestalt in Wanderschuhen, abgeschnittenen Jeans und Batikleibchen. Ich war eben von der Arbeit gekommen – damals war ich Maler auf den Baustellen der Gegend –, stellte mich an die Tür und beobachtete sie. Jeden einzelnen Korb nahm sie in die Hand, drehte und beschnupperte ihn. Erst als ich ein Räuspern hören ließ, wandte sie sich um.
    »Oh. Hallo.«
    Ich sagte nichts.
    »Die sind schön«, sagte sie. »Hast du sie gemacht?«
    »Mein Vater.«
    »Verkauft er sie?«
    »Mein Vater ist tot. Wer bist du?«
    »Er hatte Talent.«
    »Schon möglich. Wer bist du?«
    »War bestimmt ein exzentrischer Mensch.«
    »Ich habe mich nicht um ihn geschert.«
    »Und er sich nicht um dich.«
    »Kann man durchaus so sagen.«
    »Und du hast ihn dafür gehasst.«
    »Wer bist du?«
    »Tust es immer noch. Mit aller Leidenschaft.«
    »Wer bist du?«
    Sie musterte mich von Kopf bis Fuß. Ich ließ es über mich ergehen.
    »Wer ich bin? Die von da oder dort. Die von überall.«
    Sie lächelte wieder. Ich sah diese komischen Holzmurmeln in ihrem Haar. Sie gefielen mir.
    »Kennen wir uns?«
    »Vielleicht. Vielleicht nicht«, sagte sie und lachte laut auf.
    Marisa blieb. Zwei Jahre nach dem Tod der Eltern füllte sie das Haus mit ihrem Appetit auf die Welt. Sie wollte alles sehen und berühren. Sie baute die Küche um, riss Wände heraus, konstruierte schwindelerregende Möbel. Auch ich schlug hier und dort einen Nagel ein, nahm manchmal einen Pinsel in die Hand. Am liebsten jedoch überließ ich ihr die ganze Arbeit und sah zu, wie sie sich den Staub lachend aus dem Gesicht wischte. Wenn sie so weitermacht, dachte ich, ist das Haus in ein paar Jahren durch ein neues ersetzt. Sie wütete pausenlos, Verputz und allerlei Isoliermaterial flogen uns um die Köpfe. Kreative Zerstörung, nannte sie es und jauchzte. Ich jauchzte mit.
    Aus dem Nichts war sie gekommen. Eine Weltenbummlerin, die auf ihren Reisen überall und nirgends gewesen war. Sie kannte die Kontinente, ohne sie benennen zu können. Allen Orten hatte sie ihren eigenen Namen gegeben, und so machte sie es auch mit diesem Dorf, mit diesem Haus, mit mir. Mein Leben mit ihr war eines, von dem ich nie geträumt hatte. Aber es war das richtige, das beste Leben. Wir ehrten es laut und furchtlos. Ich ging nur noch unregelmäßig auf die Baustelle, reparierte manchmal etwas für einen Nachbarn. Zusammen verkauften wir die Körbe meines Vaters, von denen im Schuppen Dutzende herumlagen. Später überredete sie mich, selber zu flechten. Wir könnten problemlos davon leben, meinte sie, zwei Körbe pro Woche, mehr Geld bräuchten wir nicht. Wir brauchten in der Tat fast nichts, wir hatten uns, wir hatten das Haus, wir hatten die Welt, die Marisa mit ihren ranken Händen eroberte.
    Die Leute schwiegen. Doch sie missgönnten mir das Glück nicht. Sie wussten, wie unser Vater gewesen war. Sie dachten wohl: Dem darf es jetzt auch mal gut gehen. Ich war sicher, dass mein Bruder genauso dachte, denn in seinem Innersten wusste er, dass nicht ich an seinem Unglück schuld war. Seit wir uns um das Haus gerauft und ich den Sieg unter zwei Angsthasen davongetragen hatte, war er für immer verschwunden. Irgendwo, stellte ich mir vor, sitzt er und wartet das Ende des Wartens ab, das Ende seines Unglücks und seiner Mutlosigkeit.
    Marisa, mein dahergelaufener Traum. Sie erwähnte nie etwas. Keine Sehnsucht, kein Reißen. Als ob sie das Nomadenleben für immer

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