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Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Titel: Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Steiner
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hinter sich gelassen hätte. Doch ihr Rucksack blieb die ganze Zeit in derselben Ecke stehen. All ihre Sachen waren da drin, während wir dem Haus meiner Eltern neues Leben einprügelten, zu zweit durch die Wälder zogen, mit den Jungs auf der Straße Fußball spielten. Wir lausten uns, schlugen uns, liebten uns, alles in so maßloser Weise, dass die Nachbarn die Augen verdrehten. Und der Rucksack stand die ganze Zeit da.
    Ich hatte nie verstanden, wie sie ihre Entscheidungen fällte. Vielleicht ließ sie einfach die Dinge über ihr Leben entscheiden, so wie damals, als die Körbe im Schuppen sie festgehalten hatten. Eines Tages musste sie über den Rucksack gestolpert sein und sein Anblick wird etwas in ihr ausgelöst haben. Eines Tages war sie weg, und ich wusste, sie würde nicht mehr zurückkommen.
    Ich öffnete die Augen, sah einen Garten, einen Baum und einen braunen Opel. Was war geschehen? Nach und nach erinnerte ich mich. Die Hirscheneck. Heinz. Der Donner im Himmel. Das Mondgesicht. Ich unter dem Balkon, der dunkle Vorhang vor meinen Augen. Marisa. Und dann? Ich musste mit geschlossenen Augen weitergegangen sein, denn das hier vor mir war mein Garten, mein Kirschbaum, und das da drüben war mein Haus, und dort mein Opel, braun wie ein Haufen Mist.
    Erst jetzt sah ich auch die Leute auf der Straße. Alle rannten sie mit glühenden Augen in dieselbe Richtung. Hatte es mit dem Donner zu tun? Musste ich auch rennen? Eine vierköpfige Familie hetzte an mir vorbei. Mit ihren acht Augen guckte sie mich an, als ob ich die Weihnachtsbescherung verpasste.
    Nein, ich würde nicht rennen. Ich hatte anderes zu tun. Während ich der Familie nachblickte, näherte ich mich wie von einem Geist geleitet dem Auto. In meiner Hosentasche klimperte es. Ich blickte an mir hinunter und sah in meiner Hand ein Schlüsselbund. Die Hand hob sich, führte den Schlüssel an das Schloss. Die Autotür knarrte, ich ließ mich auf den Sitz plumpsen. Tür zu, Schlüssel ins Zündschloss, Kupplung durchgedrückt, Bremse leicht angetippt. Ich drehte den Schlüssel um. Ein Brummen unter meinem Hintern, die Rückspiegel verdunkelten sich.
    Als das Dorf hinter mir lag, kurbelte ich das Fenster herunter. Der Hauch in meinem Gesicht erfasste alle Fragen, alle Antworten und wehte sie davon. Mein rechtes Bein streckte sich, der Motor heulte auf. Grün und Braun und Gelb rasten an mir vorbei, am Horizont stand ein schwarzer Rauchpilz. Ein Menschenschatten tauchte vor meiner Kühlerhaube auf. Ich trat auf die Bremse, riss das Steuer herum, der Schatten flitzte knapp an mir vorbei. Im Rückspiegel sah ich den kleinsten der drei Jungs, die ihre Sitzungen unter meinem Baum abhalten, auf seiner Schulter trug er ein Schmetterlingsnetz. Er blieb auf der Straße stehen und schaute mir nach. Ich hob die Hand, er winkte mit seinem Netz zurück. Ich bin sicher, dass er mir eine gute Reise wünschte. Wieder setzte ich den Fuß aufs Gaspedal und drückte durch.
    In meinem Kopf glomm eine Erinnerung. Ich erkannte das Mondgesicht vom Balkon, wie eine Moränenlandschaft sah es aus, in ihrer Mitte zwei verwelkte Augen, an denen das Unglück und die Mutlosigkeit nagten. Mein Bruder, dachte ich. Was haben wir uns gegenseitig für ein Leben beschert? Ich fühlte eine Wut, ich wünschte mir eine Prügelei herbei. Der Zeiger auf dem Tachometer bewegte sich weiter, unter meinem Hintern begann der Sitz zu zittern. Vor meinem inneren Auge erschien Marisa und drängte den mondgesichtigen Bruder weg. Ich dachte an ihre Flucht, ihr altes und ihr neues Leben. Wie viele neue Leben hatte sie in den letzten achtundzwanzig Jahren angefangen? Der Motor dröhnte, ich klammerte meine Hände fest um das Lenkrad. Heinz erschien in meinem Gedächtnis und scheuchte Marisa übermütig weg. Ich sah ihn ganz genau, den ausgemusterten Knecht, der sich in der Hirscheneck ein neues Leben erfunden hatte. Ich dachte: Alles hat er richtig gemacht. Und ich habe nicht bemerkt, dass er immer auf meiner Seite war.
    Das Gaspedal meines Opels erreichte den Anschlag, die Karosserie rumpelte. Ich schaute zum Seitenfenster hinaus. Wie ein Funkenregen sauste die sommerliche Revue durch mein Blickfeld. Ich sah Blumenfelder, Radfahrer, Schmetterlinge, ich roch das Heu, spürte die Hitze. Und alles verschmolz ineinander. Ein Heulen erklang aus meinem Mund. Eine Träne zog eine nasse Linie über meine Schläfe.

Durchbruch
    Bereits im Mai herrschte eine Bullenhitze. Sie raffte die Alten dahin wie die Fliegen,

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