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Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Titel: Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Steiner
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brauche keine einsame Insel, höchstens mal eine andere Frau, denn neben diesem Hausdrachen würde er noch draufgehen. Pausenlos redeten sie, Nachdenken stand nicht auf dem Programm. Doch auch ich war nicht schlauer. Ich hatte keine Ahnung, was der Nette wollte, und es würde noch eine ganze Weile dauern, bis ich begriff, wohin ich mich mit meiner Schaufel grub.
    Vier Wochen später war der Nette immer noch nicht zurück. Endlich ließen sich auch die Nachrichten dazu herab, die Meldung durchzugeben. Im Fernsehen stellte sich alle paar Tage einer hin, der behauptete, ihn gesehen zu haben. In einer Moskauer Disco beim Abtanzen oder in einem österreichischen Bergkaff beim Quadfahren. Ein Kolumnist berichtete, in der Namibwüste habe er am Steuer eines Hummer gesessen, oder war es ein Blogger gewesen? Ich weiß es nicht mehr. Was die Jungen alles sind, kann unsereiner nicht mehr auseinanderhalten. Jedenfalls, der Nette kam nicht zurück. Das ist die Tatsache. Der Nette blieb weg und alle schwitzten, dösten, prügelten sich durch den Sommer.
    Eines Abends – es muss etwa Mitte Juni gewesen sein –, als ich auf der Terrasse ein Bier trank und mein Tagewerk begutachtete, hörte ich hinter mir ein seltsames Kratzen. Ich blinzelte in die Dämmerung und erkannte meine Frau. Sie hatte sich auf einen Gartensessel gesetzt. Ich musterte sie lange. Wann hatten wir eigentlich zum letzten Mal geredet? Würde ich ihre Stimme wiedererkennen? Ich sagte: »Was meinst du, Luise? Wo ist er hin, der Nette?« Sie sah aus wie ein Wesen, bei dem nicht klar wird, was vorne und was hinten ist. Ich wandte mich ab, und während ich die Flasche an meinen Mund hob, dachte ich an die Zeit, als meine Hände dieses Gesicht gesucht hatten, die Lippen, damals noch kurvig und ein einziges Versprechen, die grünen Augen zwei Seen ohne festen Grund, die Brauen ein vollendeter Triumphbogen. Eine Zeit, die nur noch als schwaches Glimmen in meinem Gedächtnis ruhte.
    »Irgendwo ist er wohl.«
    Ich stierte ins Halbdunkel. Hatte meine Frau eben gesprochen? War das ihre Stimme gewesen?
    Ich sagte: »Wo denn?«
    »Wenn er da ist, ist er da, wenn er dort ist, ist er dort.«
    Sie erhob sich, in der Hand wie immer die Kaffeetasse, auf der Nase eine Brille, die aussah, als ob sie sich an dem unwirtlichen Ort für immer festgekrallt hätte. Langsam schlurfte sie ins Haus. Ich nahm mir ein neues Bier aus der Kühlbox.
    Während ich an der Flasche nuckelte, dachte ich über meine Familie nach. Alles, was diese Brut am Laufmeter produzierte, war Ungemach und Schwachsinn. Ein Sohn, dem ich seit zwanzig Jahren mein Vermögen nachwarf, um ihm seine lausigen Illusionen zu erhalten. Eine Tochter, die von einem Schwerenöter an den anderen geriet und sich von jedem ein Geschenk in Form eines quengelnden Wichts mitnahm. Eine Frau, deren Gestalt immer mehr einem Termitenhügel glich, der sein Inneres vor aller Welt verbarg. Warum bestraften sie mich für all die Mühe, all das Rackern? Ich nahm einen großen Schluck und versuchte, mir etwas Schönes zu wünschen, etwas, das ich die ganzen Jahre von meiner Familie nie bekommen hatte. Aber ich hatte keine Ahnung, was das sein könnte.
    Am nächsten Tag war ich noch früher auf als sonst. In diesen Wochen waren die ersten Stunden des Morgens die erträglichsten. Niemand störte mich, klumpige Braunerde flog in Schippenhäufelchen aus dem Aushubloch. Irgendwo ist er wohl. So ein Mumpitz, dachte ich. Ich grub und grub. Aber wo war er denn, wo? Wenn er da ist, ist er da – was für eine Idiotie. Wenn er dort ist, ist er dort – Bockmist. Ich drosch meine Schaufel so fest in die Erde, dass sie Dellen bekam. Ich grub und grub und grub.
    Erst später sollte ich begreifen, dass es keine klügere Antwort auf das Verschwinden des Netten gab. Wenn er da ist, ist er da, wenn er dort ist, ist er dort. Wie recht meine Frau hatte! Sie hatte die klügste Antwort gegeben, weil es keine Antwort auf die Frage nach dem Netten gab. In Funk und Fernsehen redete man inzwischen pausenlos von ihm, jeden Tag gab es einen neuen Vorschlag, wo er sich aufhielt. Doch hier, wo man ihn kannte, weil er hier wohnt, hier trieb die Werweißerei die schlimmsten Blüten. Huber senior erkannte den roten Audi A8 des Netten nach eigenen Angaben auf hundert Meter. Bevor dieser abgetaucht war, hatte Huber deshalb immer genau Bescheid gewusst, wann der Nette sich in der Gegend aufhielt. »Sie haben ihn also gesehen?«, fragte Schober Huber. »Ja, klar, es war sein

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