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Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Titel: Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Steiner
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anderen zu tun? Die Blicke senken sich, und gemeinsam sehen wir ihn, der Landstreicher sieht ihn, der Junge sieht ihn, ich sehe ihn, auch der ältere Bruder auf dem Balkon, alle sehen ihn, den jüngeren Bruder, der zu früh aus der Hirscheneck kam und der nun vor dem winzigen Scherbenhaufen steht. Ein missgestalteter Menschenkörper im heiteren Licht des Nachmittags. Der jüngere Bruder blickt zum Balkon hinauf, der ältere Bruder blickt hinunter. Und sie können beide nicht mehr wegsehen. Die alte, fast vergessene Geschichte, das Erbe des Hausvaters, der Verrat der Schwester, der Streit, all dies hängt zwischen Straße und Balkon und erlaubt den beiden kein Wegsehen mehr.
    Ich rücke vom Fernrohr weg und schließe die Augen. Ich sehe das Bachtobel in jener Nacht vor fünfunddreißig Jahren, weit unten den anderen Wagen, eingeklemmt zwischen Felsbrocken und einer zerschrammten Buche. Feuerwehrmänner, die hinabklettern und mit großem Gerät das Blech entzweischneiden. Das Blaulicht der Ambulanz in der dunklen Nacht. Anästhesisten im grellen Schein der Notfallstation, den Blick auf das EKG gerichtet.
    Der Fahrer des anderen Wagens überlebte den Unfall mit einer Wirbelsäulenfraktur, drei verlorenen Fingern und einem Gesicht, das nur noch zur Hälfte intakt war. Gehen, Sprechen, Lachen waren ihm nicht mehr möglich. Aber er lebte. Weiß gewandete Menschen legten ihn hin, setzten ihn auf, putzten ihm die Nase, wuschen ihn, holten den Kot aus seinem Darm. Jahre verbrachte er in einem kubischen Neubau, mit Rollstuhlaufzügen, tief montierten Türklinken und Auffahrtsrampen aus Chromstahl, lange Jahre des Wartens. Wo waren sie, die Rächer, die Scharfrichter? Wieso kamen sie nicht, um ihm den Kopf einzuschlagen, ihm das Fell über die Ohren zu ziehen, ihn mit Benzin zu übergießen, anzuzünden und seinem lodernden Tod zuzuschauen?
    Er lag und saß, wachte und schlief. Es dauerte lange, bis er in der Lage war, seinen Alltag ohne fremde Hilfe zu bewältigen. Als es so weit war, gab er seinen Pflegern zu verstehen, dass er weg von dem Heim wollte. Sie hielten ihm Prospekte von anderen Wohnkuben für Behinderte hin und zeigten auf die Bilder von wohlgestalteten Aufenthaltsräumen und Bastelzimmern. Er riss ihnen die Prospekte aus den Händen, verlangte nach Papier und zeichnete mit dickem Zimmermannsbleistift, was er wollte: ein altes Haus, klein, ohne Lift, ohne Auffahrtsrampen, ohne Linoleum auf den Fußböden. Geht nicht, hieß es, viel zu kompliziert. Geht doch, sagte sein erzürnter Blick. Nicht mit seinen Voraussetzungen, hieß es. Er schaffe das, sagten seine Fäuste. Er wisse auch, wo das Haus stehen solle, und er schrieb den Namen eines Dorfes auf das Papier und klopfte mit krummem Zeigefinger darauf. Genau hier und an keinem anderen Ort. Und eines Tages kam sein Pfleger und breitete eine Handvoll Fotos vor ihm aus. Sie zeigten ein altes Riegelhaus, die Fenster klein, die Treppen eng und steil. Das Haus stand seit Jahren leer, niemand interessierte sich für das Grundstück. Als der Pfleger ihm den Namen des Dorfes nannte, huschte ein Ausdruck der Befriedigung über sein halbes Gesicht. Schließlich wurde er an den Ort gebracht, der die richtige Hülle für seine Existenz abgab.
    Ich öffne die Augen. Vor mir das Fenster. Vor dem Fenster die Gegenwart. Ich sehe die Dorfstraße, den Platz beim Brunnen und den Laden der alten Frau Munzinger. Der Landstreicher und der Junge sind weg, auch die Brüder sehe ich nicht mehr. Ein brauner Opel rauscht vorbei, eine Elster setzt sich auf eine Dachrinne. Still ist es jetzt.
    Ich drehe mich ab, gleite vom Fenster weg. Kurz erscheint mein eigenes Gesicht in der Glasvitrine neben der Kommode. Eine unruhige Landschaft wie aus Wachs, voller Dellen, Mulden und Gräben. Irgendwo darin sehe ich ein Auge. Jedes Mal habe ich den Eindruck, es befinde sich woanders in dem zerschlagenen Terrain. Jedes Mal suche ich nach Leben in dem Auge.
    Täglich sitze ich an meinem Fenster wie andere in ihrem Labor. Keiner sieht mich, niemand weiß etwas. Dennoch bin ich da. Geduldig warte ich auf den Tag, an dem Vergeltung geübt wird. Bis dahin zergliedere ich das bisschen Leben, das da draußen auf der Straße abläuft, und stelle mir vor, was als Nächstes kommt.

Pause und weiter
    Wir sind die Troika. Keiner sieht uns, niemand weiß etwas. Dennoch sind wir da. Obwohl Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft gegen uns sprechen, ist keine Welt vorstellbar, in der es uns nicht gibt. Denn das Dasein der

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