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Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Titel: Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Steiner
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Ich schließe die Augen. Wie gerne würde ich jetzt aus der Gegenwart hinausfallen, weg aus diesem Elendskino und diesem Denken. In die Schwärze vor meinen Augen drückt sich ein Bild aus meiner Kindheit. Ich sehe eine holprige Kiesstraße und mich selbst als kleinen Jungen, der ein Fahrrad am Lenker festhält. Das Fahrrad ist neu, ein Geschenk von einem Onkel, an dessen Namen ich mich nicht erinnern kann. Es hat schon eine Weile versteckt in unserem Keller gestanden. Jetzt ist der Tag gekommen, an dem ich es zum ersten Mal sehen darf. Es ist das wertvollste Geschenk, das ich je bekommen habe. Blau der Rahmen, braun der gefederte Sattel, die Reifen schwarz und weiß und fein gerillt. Alles genau so, wie ich es mir immer gewünscht habe. Ich stelle den Fuß auf das Pedal, stoße das Fahrrad an, stoße und stoße, will mich draufschwingen, mit dem Bein fix über den Sattel, aber es gelingt mir nicht, ich kann das Bein nicht genug anheben und das Knie schlägt an die Unterseite des Sattels, ich versuche es nochmals, stoße mich wieder und wieder vom Boden ab, ich höre das Rufen des Onkels weit hinten, und das Tapsen meines Fußes auf dem Kies wird zum Stampfen, das immer lauter wird, und noch immer gelingt es mir nicht, das Bein über den Sattel zu heben, und ich möchte nun abbremsen, das Fahrrad loslassen, aber ich kann nicht, meine Füße stampfen weiter durch die Landschaft, und plötzlich ist mir, als seien meine Hände am Lenker festgebunden, selbst wenn ich es wollte, könnte ich sie nicht davon lösen, und das Stampfen meiner Füße wird allmählich zum Bullern in meinem Kopf, so fest, dass mir schwindlig wird davon, so fest, dass das ganze Universum davon erfüllt ist, und dann, gänzlich unvorhergesehen, reißt das Bild auseinander.
    Ich öffne die Augen, arbeite mich in den Rollstuhl zurück und fahre ans Fenster. Mein Blick durchs Okular prüft, ob die Teile der Gegenwart noch unverrückt vorhanden sind. Hirscheneck, Kastanie, Brunnen, Linde. Ja, sie sind noch da. Auch der Junge, der jetzt am Brunnen steht. Ich schaue auf den Wecker. Es ist kurz nach drei Uhr. Ich bin also doch eingeschlummert. Hat der Junge die ganze Zeit über an der Straße gestanden? Ich kann es nicht wissen, kann nur hinsehen und dafür sorgen, dass ich jetzt nichts verpasse.
    Der Landstreicher taucht wieder auf. Er redet auf den Jungen ein, scheint ihn vom Brunnen wegdrängen zu wollen. Beide beginnen gleichzeitig, um den Brunnen herumzugehen, und der Landstreicher wirft kurze Blicke ins Wasser. Seine Schnapsflasche ist noch da, aber er sorgt sich. Ich schwenke das Fernrohr Richtung Balkon. Über der Brüstung sitzt der Kopf des älteren Bruders. Auch er schaut dem Geschehen am Brunnen zu. Schwenk hinunter. Der Landstreicher fuchtelt mit den Händen, wirft immer noch Blicke ins Wasser, der Junge scheint es nicht zu bemerken. Mein Fernrohr bewegt sich jetzt hinauf und hinunter. Oben auf dem Balkon ein krachendes Husten. Unten verliert der Landstreicher seine Geduld. Oben neigt sich der schwere Kopf über die Brüstung, das Weinglas und die Zigarette auch, unten wieder Gefuchtel. Man versteht nicht ganz, was los ist, wenn man hinter dem Fenster sitzt und nichts hört. Ich rücke weg von meinem Fernrohr, und in diesem Augenblick sehe ich den jüngeren Bruder, der in der Tür der Hirscheneck erscheint und langsam die Treppe hinuntersteigt. Normalerweise bleibt er eine halbe Stunde in der Wirtsstube, doch heute ist er viel zu früh. Schon ist er auf dem Parkplatz draußen, und er kommt unaufhaltsam näher. Ich halte das Auge wieder ans Fernrohr. Auf dem Balkon der fleischige Kopf des älteren Bruders, sein Blick starr auf die Szene am Brunnen gerichtet, seine Hände auf dem Balkongeländer, Zigarette und Glas. Schwenk. Unten immer noch der Tanz um den Brunnen herum. Gleich macht der Landstreicher einen Satz und krallt sich den Jungen. Schwenk. Der Kopf des älteren Bruders wird immer schwerer, langsam senkt sich die linke Hand.
    Und lässt das Glas los.
    Das fliegt.
    Und fliegt.
    Und fliegt.
    Und mit einem bombastischen Knall auf dem grauen Asphalt landet.
    Augenblicklich schauen alle in den Himmel hoch. Auch ich hebe den Kopf. Eine Echowelle rauscht über uns hinweg, dann kehrt wieder Ruhe ein. Was war das? Alle Blicke senken sich wieder, suchen das Glas, das sich in einen winzigen Scherbenhaufen verwandelt hat, viel zu klein für einen solchen Krach, wie kann ein Weinglas einen solchen Krach machen, oder hat das eine nichts mit dem

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