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Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Titel: Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Steiner
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Jahren hatte er dort einen Stand. Er verkaufte gut, die Leute wussten die Qualität seiner Körbe zu schätzen. Nach dem Aufräumen Einkehr in einem Landgasthof, Entrecôte für ihn, Lammrückenfilet für sie, dazu ein Glas Wein. Zweimal im Jahr leistete er sich das. Danach Weiterfahrt in der pechschwarzen Nacht. Die Landstraße führte in einem langgezogenen Bogen durch einen kleinen Wald, am Ende des Waldes folgte eine Brücke. Unübersichtlich, die Stelle. Er kannte sie und fuhr wie immer vorsichtig. Doch dieses Mal nützte die Vorsicht nichts. Alles ging blitzschnell. Ein Lichtstrahl, ein Dröhnen. Dann der Aufprall. Wenn meine Haushälterin an diesem Punkt der Geschichte ankommt, hält sie sich die Hand vor den Mund und schließt die Augen.
    Auch von der anderen Seite her ist die Stelle gefährlich. Wer von hier kommt, gerät in eine Kurve, die immer enger wird, und ganz am Schluss der Kurve ist die Brücke, wo die Straße auch noch schmaler wird. Er merkt plötzlich, er ist zu schnell, aber er merkt es zu spät, und er weiß, es wird nicht mehr reichen. Ein Lichtstrahl, ein Dröhnen, dann der Aufprall.
    Jeden Tag sitze ich am Fenster. Meine Fernrohre sind mein Mikroskop. Durch sie hindurch sehe ich Bewegungen in den Menschen auf der Straße, die man sonst nicht erkennt. Da ein winziges Zucken, dort ein kümmerliches Wimmern, hier ein geringfügiges Toben. Wenn ich den Schmerz der Menschen vergrößere, wird er irgendwann auf mich überspringen. Ich weiß, der Augenblick wird kommen. Dann wird Vergeltung geübt, und meine Geschichte wird ein Ende haben.
    Ich höre eine Melodie. Der jüngere Bruder tritt aus der Hirscheneck. Ich greife zum dritten Fernrohr und sehe sein Gesicht, die massiven Brauen, tiefliegende Augen. Erstes Fernrohr: Langsam geht er unter dem Balkon hindurch und die Straße hoch. Zweites Fernrohr: Immer kleiner wird er, am Schluss ist er nur noch ein Komma auf dem Trottoir, nickt einem anderen Komma zu und biegt ab. Kaum ist er verschwunden, tritt hier unten auf der Straße eine weitere Melodie zutage. Es ist der Landstreicher. Er strebt zum Brunnen und schaut verschwörerisch um sich. Bald ist Mittagszeit, die Straße leer. Nur der ältere Bruder auf dem Balkon und ich hinter dem Fenster sind da. Wir sehen dem Landstreicher zu, wie er sich über den Brunnen bückt, die Arme ins Wasser taucht. Wie er ein paar Sekunden verharrt. Wie er die Arme hochzieht und ein durchsichtiges Netz in den Händen hält, in dem eine Flasche aus Weißglas liegt. Wir beide, der ältere Bruder und ich, wir kennen sein sommerliches Schnapsdepot. Ich drücke mein Auge ans Fernrohr und sehe: ein grobes Gesicht, zwei buschige Augenbrauen, ein abgefeimter Blick. Ich weiß, was jetzt kommt. Ich brauche nicht hinzuschauen.
    Man fand das Auto des Ehepaars als zerfetzten Blechhaufen, als ob ein wütender Riese es in seinen Pranken zermalmt hätte. Als der Arzt am Unfallplatz ankam, konnte er nichts mehr beitragen angesichts der zwei verstümmelten Menschenkörper, kaum mehr als solche erkennbar. Man ging von einem Selbstunfall aus, dann aber entdeckte einer der Feuerwehrmänner Bremsspuren auf der anderen Seite der Brücke, und kurz darauf fand man Karosserieteile, die nicht zu dem Blechhaufen passten. Nach langem Suchen stieß man weit unten im Bachtobel auf den anderen Wagen.
    Ich verstehe meine Haushälterin. Diese Stelle in der Geschichte verursacht Übelkeit. Aber ich kann sie nicht auslassen. Ich muss sie mir selber wieder und wieder nacherzählen, und jedes Mal erfasst mich eine Wut. Zwei Menschenleben in Sekundenbruchteilen ausgelöscht, drei Kinder zu Waisen gemacht. Gerädert, gevierteilt, ans Kreuz geschlagen, bei lebendigem Leibe verbrannt gehörte er. Die Wut tanzt um mich herum wie ein hundsgemeiner Geist. Ich strecke die Hand aus und greife nach der Tasse. Sie fliegt durchs Zimmer, durch den Geist hindurch, trifft die Wand und zerbricht in einem dumpfen Scheppern. Ich starre auf die braunen Flecken an der Wand, der Geist tanzt vor meinen Augen weiter. Ich presse die Lippen zusammen und wende mich von ihm ab. Die Brüder, denke ich. Stell sie dir vor. Wie ging es weiter mit ihnen?
    Nach dem Tod der Eltern schien die Geschichte der Geschwister erst keinen Wank zu machen. Sie hausten unter demselben Dach wie eh und je, im oberen Stock der Onkel, der sich dauerhaft eingenistet hatte. Keine Sekunde dachten sie daran, einen Tyrannen losgeworden zu sein, vielmehr schienen sie auf seine Rückkehr zu warten. Der

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