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Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Titel: Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Steiner
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ältere Bruder, der heute sein Restleben auf dem Balkon absitzt, arbeitete damals als Goldschmied, der jüngere war Maler. Die Schwester fuhr zur Arbeit in die Stadt, sie hatte Hotelfach oder Ähnliches gelernt – niemand wusste es genau. Nach Feierabend saßen sie alle zu Hause, die Brüder tranken Bier, die Schwester rauchte und der Onkel aß kalte Bohnen aus der Dose. Sie konnten sich nicht leiden, aber damals wussten sie das noch nicht. Sie hatten die Grausamkeit des Vaters in der Form von Angst geerbt, aber nach und nach verwandelte sie sich zurück in das, was sie eigentlich war. Unter der dicken Elefantenhaut ihrer Trägheit wuchs sie an, sie spürten es selbst auf der durchgesessenen Couch, und vielleicht stellte jeder sich den bevorstehenden Gewaltausbruch bereits in allen Details vor.
    Doch es kam ganz anders. Aus der sich belauernden Wohnzimmergesellschaft ging eine Konstellation hervor, mit der die Brüder nicht gerechnet hatten: Onkel und Nichte, Vaterbruder und Schwester, beide waren sie eines Tages weg. Zuvor hatten sie heimlich das Land verkauft, das der Vater seinen Kindern hinterlassen hatte, und den Erlös hatten sie als Reisegeld eingesteckt. Sie kamen nie mehr zurück. Hatte sich hinter dem Onkel ein ganz anderer Mensch versteckt, ein Verführer, ein Dieb? War die Schwester Opfer oder Anstifterin gewesen?
    Der Streit zwischen den Brüdern war kurz und heftig. Hier muss meine Haushälterin tief durchatmen, bevor sie weiterfährt. Sie seien immer friedfertige Menschen gewesen, aber an dem Tag, als sie den Betrug entdeckt hätten und der ältere dem jüngeren vorwarf, er habe davon gewusst und ihn und sich selbst mit vollster Absicht ruiniert, an dem Tag schlugen sie sich gegenseitig spitalreif. In der Tat, sagt meine Haushälterin, sei der Erlös aus dem Landverkauf viel höher gewesen, als man hätte erwarten können, und hätte den Geschwistern für den Rest ihres Lebens alle finanziellen Sorgen genommen. Das Landstück gehört heute einem Pferdezüchter, dessen Gestüt es zu einiger Bekanntheit gebracht hat.
    Wieder genesen, kehrte der ältere Bruder nie mehr in das Haus zurück. Sie konnten sich nicht versöhnen. Auch dies ein Erbe des Hausvaters. Von da an gruben sich die Bitterkeit und die Angst tief in das Gesicht des älteren Bruders, während der jüngere sich erst seiner Vergangenheit zu entwinden schien. Er hatte eine Frau, sie war schön und ein einziges Zukunftsversprechen. Man sah den beiden auf der Straße nach, man freute sich über das junge Glück. Doch eines Tages war auch sie weg, so spurlos wie die Schwester, und der jüngere Bruder verschanzte sich fortan im Haus.
    Nichts und niemand brachte die Brüder in all den Jahren darauf, ihre Vergangenheit zur Rede zu stellen. Den Mörder ihrer Eltern zu finden und abzustrafen. Beide hatten sie beschlossen, in ihrem Leben nichts anderes mehr zu tun als zu warten. Worauf auch immer.
    Ich halte mein Auge an das Okular. Der Landstreicher zieht weiter. Alle hier nennen ihn so, aber natürlich ist er kein Landstreicher. Vielleicht wühlt er nur deshalb in den Abfalleimern, weil er sie provozieren will. Auch dass er die Katzen in der Scheune am Waldrand füttert, ärgert sie. Ich sehe ihre Blicke, wenn er auftaucht, und ich weiß, einige von ihnen sind zu vielem fähig. Auch er weiß das, aber er lässt sich nichts anmerken.
    Auf dem Balkon nimmt der ältere Bruder das Mittagessen ein. Langsam kaut er an seinem Salamibrötchen. Die Nase thront rot und dicht geädert im Gesicht, der matte Blick ruht auf der Flasche, die bald leer sein wird. Nun tritt ein Junge aus dem Laden. Seine Hosentaschen sind ausgebeult. Bestimmt hat er sie mit Süßigkeiten gefüllt. Er geht zum Parkplatz der Hirscheneck, ich wechsle zum dritten Fernrohr. Unter der Kastanie beißt er in einen braunen Riegel. Auch ihn kenne ich. Er ist einer der drei Halbwüchsigen, die oft durch die Straßen stromern. Manchmal bleiben sie abrupt stehen, wie von einer überfallartigen Ratlosigkeit erfasst, wie umstellt von einem Heer von Fragen. Heute aber ist nur der eine da, und er schlingt seinen Schokoriegel in einer Hektik hinunter, als ob er damit alle Fragen vertreiben wollte.
    Ich entferne mich vom Fenster. Eine halbe Stunde sollte ich mich hinlegen. Schlafen wäre gut, aber das gelingt mir selten. Ich hieve mich auf das Bett. Als ich endlich liege, lausche ich eine Weile lang den Geräuschen. Es gibt in diesem Haus alle möglichen Tiere, aber gesehen habe ich noch nie eines.

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