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Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Titel: Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Steiner
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sagen, woher die Vorliebe kommt, ich interessiere mich eben für diese Tiere. In der Laiensprache heißen sie Schwimmkäfer. Mehr als 150 Arten gibt es in Europa, Gelbrandkäfer, Breitrandkäfer, Kugelschwimmer, Teichschwimmer, Flussschwimmer, Zwergschwimmer, Gaukler und viele mehr. Der Kosmos-Käferführer enthält die ganze Systematik mit Zeichnungen.
    In Sachen Schwimmkäfer bin ich immer allein unterwegs. Zu meinem Lieblingsteich im Dickicht des Unteren Holzerwalds komme ich kaum hin. Für die letzten dreißig Meter von der Anhöhe aus, wo eine Fuchshöhle mit acht Eingängen ist, brauche ich zehn Minuten. An meinem Teich finde ich die meisten Schwimmkäfer, die schönsten und die größten.
    Noch immer regt sich nichts hinter den Glasscheiben. Die Mantiden sitzen still in den Orchideen. Ich setze mich auf eine Holzkiste und knipse die Taschenlampe aus. Ich muss nachdenken.
    Ich denke an die Fuchshöhle, den Teich und die Schwimmkäfer. Dort im Wald ist es vor wenigen Tagen passiert. Die Schwimmkäfer sind nicht schuld. Ich allein bin es. Es hat bloß mit ihnen angefangen. Und dann bin ich auf den falschen Weg geraten.
    Vielleicht hat es mit dem Alter zu tun. Wie bei Fred, der auf den Tag zehn Monate älter ist als ich. Normalerweise ist er einfach der alte Fred, doch manchmal glaubt man jemand anderen vor sich zu haben, der sich eine Fred-Maske auf den Kopf gestülpt hat. Er sagt: »Heute will ich einfach alle umbringen.« Oder: »Gestern habe ich beim Händewaschen extra viel Seife genommen, und dann habe ich gerubbelt und es hat so krass geschäumt und ich habe weitergerubbelt, ich konnte nicht mehr aufhören, bis ich wie ein Idiot schreien musste.« Man könnte sagen: Es war einfach ein Unglück. Aber es war mehr, ich weiß es.
    Der letzte Schultag. Erst Mittagessen in der Aula, am Schluss Verteilung der Zeugnisse. Ein einziges Quieken und Grölen in den Gängen. Man weiß nie, wann man gehen darf bei dem ganzen Durcheinander. Fred und Igor waren nicht zu sehen, ich schlich leise davon. Zu Hause packte ich meine Utensilien in den Rucksack: Kescher, Köder, Gewürzgläser, Pinzette, Etiketten, Zeichenblock und so weiter. Vater blickte über den Zeitungsrand und sagte: »Mach keinen Blödsinn.« Ich sah seinen Mund nicht, aber an den Augen bemerkte ich, dass er lächelte. Ich hatte noch nie Blödsinn gemacht.
    Der Untere Holzerwald ist ein dichter Wald, fast kein Licht dringt durch seine Baumkronen, weshalb es nach Regenfällen lange feucht bleibt. Einmal war ich mit Fred und Igor hier, um eine Baumhütte zu bauen. Wir streunten herum, Fred hob Äste vom Boden auf und halbierte sie, indem er sie gegen die Baumstämme schlug, Igor drückte seine Hände in den Morast. Ich selber achtete darauf, dass wir einen weiten Bogen um meinen Teich machten. Natürlich bauten wir keine Baumhütte. Wir schaffen es nie, etwas zu bauen. Wir streunen nur herum und knuffen uns gegenseitig.
    Als ich am Teich ankam, holte ich den Teleskopkescher aus dem Rucksack und kauerte mich auf meinen Lieblingsstein. Man muss erst mal eine Weile hinschauen. Begreifen, was geschieht vor den eigenen Augen. Um meinen Kopf schwirrte eine Königslibelle, Rohrkolben bewegten sich sacht im Wind. Ich sah dunkle Flecken an die Wasseroberfläche steigen und mit einem Zucken wieder in der Tiefe verschwinden. Man muss das können, das Observieren. Man muss begreifen wollen, was Tiere tun und warum sie es tun. Alles hat einen Zweck, jede Bewegung einen Sinn.
    Ein Knall ertönte in der Ferne, ein Eichhörnchen über mir ließ einen Tannenzapfen fallen. Er fiel ins silberglänzende Wasser und verwischte die flimmernde Welt vor meinen Augen. Ich sah hoch. Nichts regte sich im dunklen Wirrwarr der Äste.
    Vielleicht hat es da begonnen. Wenn es am Schluss in mir drin war, kann es auch bereits dort unten am Teich in mir drin gewesen sein. Der Keim von dem, was später kam. Denn alles fängt viel früher an, als man meint. Beim Menschen, in der Natur, eigentlich überall. Aber in jenem Moment bemerkte ich nichts. Ich lauschte dem Knall nach, hielt mich still und hörte nichts. Ich spähte zwischen den Baumstämmen hindurch, während das Wasser vor mir sich wieder glättete, und sah nichts. Und doch war etwas anders. Ich konnte nicht mehr stillsitzen. Nach fünf Minuten packte ich meine Sachen zusammen.
    Eine Weile zog ich kreuz und quer durch den Wald, ein paar erstaunliche Farne und eine Fuchsspur hielten mich auf. Ich stieß an den Waldrand und kam auf einen

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