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Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Titel: Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Steiner
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und eines Tages …«
    Igor hörte nicht zu. Er sah nur Schorschs wackelnde Ohren und fand das alles höchst seltsam. Schorsch erzählte wieder einmal eine seiner Geschichten, die rauchten und zischten wie Feuerwerke, während die Welt um ihn herum stehen blieb. Im Grunde genommen war es wie immer, und doch war es anders. Als ob jemand Schorsch hier hingestellt hätte, um ihm, Igor, etwas beizubringen. Wer steckte hinter Schorsch? Wer hatte ihm den Auftrag gegeben?
    Schorsch verstummte und blickte Igor an.
    »Ich war drauf und dran zu heiraten, verstehst du?«
    Igor nickte.
    »Nein, das verstehst du nicht.«
    Igor nickte.
    »Ich war schon damals längst der Normalität abhandengekommen.«
    Schorsch kratzte sich am Kopf. Es schien Igor, als ob dabei kleine Funken aus seinen Haaren sprühten.
    Seltsam, dachte er wieder. In der Regel verstand er, bevor er realisierte, dass er verstand. Jetzt war es umgekehrt. Er glaubte, etwas verstehen zu müssen. Aber es gelang ihm nicht.
    »Die Normalität weiß nichts von mir, verstehst du? Das Leben, all die Geschichten begreift man nicht, wenn man von der Normalität her schaut. Dies hier zum Beispiel«, Schorsch streckte seine Arme aus, »dies ist kein Dorf. Sondern eine Prärie. Hier und dort eine Hausruine, ein tattriges Skelett, sonst nur Sand und Stein. Wir sind alle längst schon weg. Uns gibt es gar nicht mehr. Hast du das verstanden?«
    Igor regte sich nicht.
    »Du bist der Gescheiteste von euch Jungs. Vielleicht verstehst du’s erst später. Aber vergiss nicht, was ich dir hier sage, vergiss es nicht.«
    Etwas geschieht, dachte Igor, hier und jetzt. Von überall her winkten ihm Zeichen zu, dass ihm schwindlig wurde. Im Hintergrund das dunkle Fenster, hinter dem sich eine Hand und ein Fernglas bewegten oder auch nicht, der Eingang zur Hirscheneck, vor der immer noch die Lieferwagen standen, gegenüber der stille Munzinger-Laden und der Balkon, auf dem der Dicke saß. Direkt vor ihm Schorsch, der nun seufzte, als ob ihm sein geheimer Auftraggeber den Befehl dazu gegeben hätte. Igor hielt sich am Brunnenrand fest.
    »Heute Abend werde ich meine Freunde sehen. So wie du habe ich zwei beste Freunde. Ich habe ihnen alles Glück meines Lebens zu verdanken. Wir werden zusammen essen und trinken und Spiele spielen, und wenn wir uns verabschieden, werde ich denken: Das ist es, das war’s. Danach kann die Welt von mir aus in die Luft fliegen.«
    Schorsch begann, um den Brunnen herumzugehen. Igor setzte sich ebenfalls in Bewegung, hielt sich immer schön auf der Gegenseite von Schorsch. Der Boden hob und senkte sich.
    »Hast du dir das auch schon vorgestellt?«
    Igor schüttelte den Kopf.
    »Kawumm, und keiner ist mehr da.«
    Schorschs Kopf schnellte hervor, schwebte kurz über dem Wasser und wich gleich wieder zurück.
    »Die Dinosaurier haben sich auch nichts gedacht. Und dann hat es kawumm gemacht. Und keiner von ihnen war mehr da.«
    Fortgesetztes Kreisen um den Brunnen herum.
    »Wir wissen nie, ob es doch geschieht. Deshalb, Igor, niemals die Freunde vergessen, verstanden? Wenn der Augenblick da ist, weißt du, was Freunde bedeuten. Alles andere ist egal.«
    Igor presste die Lippen zusammen. Nichts, dachte er, gar nichts verstehe ich. Der Boden verflüssigte sich weiter, zwischen den Häusern erklang ein Heulen. Igor dachte an seine Mutter, an die Rennmäuse in seinem Zimmer, die immer wieder Löcher im Käfig fanden und sich gerne in der Küche umtaten. Das Heulen stieg an, verlor sich in unhörbaren Höhen, und Igor dachte an Manu. Ja, Manu war sein bester Freund. Er würde nachher bei ihm klingeln. Er würde das Lächeln von Manus Mutter erwidern und direkt auf die Hand des Vaters zusteuern. Und Manu würde die Treppe herunterkommen, und der Boden wäre wieder fest.
    In diesem Augenblick fegte ein Knall über den Himmel. Igor sank in die Knie und schaute hoch. Der Knall prallte an den Hügeln hinter dem Dorf ab, sein Echo kehrte zurück und verlor sich zwischen den Häusern. Igor blickte zu Schorsch, dieser zuckte stumm die Achseln. Gemeinsam suchten sie die Straße nach der Ursache des Knalls ab. Gemeinsam erkannten sie, was das gewohnte Straßenbild störte. Freysinger, da, direkt vor dem Munzinger-Laden stand er. Manchmal huschte er wie eine unwirkliche Erscheinung durchs Dorf, aber jetzt stand er da und schaute zu dem Dicken auf dem Balkon hoch, und der Dicke blickte zurück, und Igor fragte sich, ob es diese zwei Blicke gewesen waren, die den Knall im Himmel

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