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Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Titel: Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Steiner
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sind eingebildet, hörst du?« Sie hatte weggeblickt und sich eine Haarsträhne um die Finger gedreht, wie sie es immer tat, wenn sie nachdachte. Aber schließlich nickte sie. Ich weiß das. Ich wäre das Wagnis nicht eingegangen, wenn ich ihr Nicken nicht gesehen hätte.
    Ich bekam ein Landstück, das Teil eines ehemaligen Bauernhofs war. Mit dem Besitzer hatte ich vereinbart, dass ich zwei Jahre lang keine Pacht bezahlen würde. Es war gutes Land, der Boden hatte einige Jahre brachgelegen. Es gab alte Nutzpflanzen, die ich bewirtschaften wollte: vier Nussbäume, zwei Kastanien, viel Holunder am Rand eines kleinen Waldstücks, jede Menge Brombeersträucher. Ich hatte vor, ihre Ernte zu hochwertigen Produkten zu verarbeiten, Sirup, Pasten oder Konfitüren. Daneben das Gemüse, klassische Sorten, allesamt biologisch gezogen: Tomaten, Zucchetti, Peperoni, Blumenkohl, Kartoffeln, Kürbis, Karotten, Wirz. Ich wollte klein anfangen und nach und nach etwas größer werden, einen oder zwei Mitarbeiter einstellen. Das war meine Idee und unser gemeinsamer Entschluss.
    Wir arbeiteten beide hart. Magda hatte die Stelle im Kindergarten, drei halbe Tage. Wir wollten etwas erreichen und wussten, dass wir dafür einiges wegstecken mussten. Dennoch zwängten sich die Bedürfnisse zwischen uns. Ein Wintermantel für Magda, eine neue Matratze, Wegwerfwindeln. Ich sagte: »Wir sollten nicht immer von den Bedürfnissen sprechen. Wir sollten sie einfach haben oder nicht haben. Meine sind gedeckt.« Wir bekamen von einem befreundeten Paar eine Matratze, Magda bettelte ihren Vater um dreihundert Franken an. Die Windeln wurden weiterhin gekocht.
    Als unser Sohn zwei wurde, bekam sie drei zusätzliche halbe Tage im Kindergarten. Ich nahm ihn mit, wenn ich arbeiten ging. Er saß auf seinem verwetzten Hosenboden und schüttelte braune Kruste von den Karotten und Radieschen. Er zog Bachrinnen und errichtete Staumauern, während ich die Beete goss. Wir dachten über nichts nach, denn wir waren beide unerfahren im Denken. Jeden Tag vergaßen wir die Zeit, und erst die Dämmerung schickte uns nach Hause. Wenn der Bub daheim sein Gesicht nicht mehr bewegen konnte, weil die Erde darauf ausgehärtet war, sagten weder Magda noch ich etwas dazu. Still arbeiteten wir die letzten Reste unseres Tagewerks ab. Magda riss Kleidungsstücke an den Nähten auseinander, ich notierte Erntezahlen in mein winziges Notizheft. Wir schwiegen auch, wenn der Bub sein Gesicht im Bastteppich rieb und sich die restlichen Erdklümpchen mit den Fingern von den Mundecken kraulte. Ich dachte an sein Talent, glücklich zu sein, aber ich dachte auch mit Sorge daran, was er später von seinen Altersgenossen zu erdulden haben würde.
    So wuchs unser Sohn heran, und der Kampf um die Bedürfnisse ging in immer neue Runden. Ich fuhr fort, meine als gedeckt zu deklarieren, während Magda die Zahl der ungedeckten hochhielt. Eine moderne Heizung endlich, damit man nicht jeden Winter fast erfriere, und wieder mal ein Buch und vielleicht ein Paar schöne Stiefel. Ich sagte: »Ein Paar schöne Stiefel würde ich auch nehmen, wenn es mir angeboten würde, aber bin ich unglücklich ohne?« Der Satz verhallte in den dunklen Kasematten meiner Familie.
    Und doch war es eine gute Zeit. Neue Gemüsesorten waren erfolgreich, der Holundersirup hatte seine Liebhaber gefunden. Sie kamen jedes Jahr und ich kam mit der Produktion nicht mehr nach. Die Beeren verkaufte ich direkt, denn die Herstellung von Konfitüren hatte ich bald aufgegeben. Aber manchmal verfaulten sie mir kiloweise, weil ich sie nicht schnell genug an den Mann brachte. Ich hätte jemanden einstellen müssen, der etwas konnte, was ich nicht konnte, der zu verkaufen wusste und neue Abnehmer fand. Einen Modernitätsmenschen, nicht so einen wie mich. Ich stellte Sep ein. Er war Rätoromane und sprach nicht gerne Deutsch. Er tat das, was ich ihm sagte, und wenn er damit fertig war, sagte ich ihm, was er als Nächstes tat. Sep war perfekt, Sep war der Falsche.
    Es war eine Zeit, in der ich viel lernte. Ich hatte nie ein Flair fürs Kochen gehabt, aber mit Magda, die sich jeglicher Essenszubereitung glatterdings verweigerte, bekam ich langsam Freude daran. Mein Repertoire beruhte auf den Erträgen des Gartens und war nicht groß, doch ich wusste es stetig zu verfeinern, und die Nachspeisen – Zwetschgenkompott oder warme Birnen mit Preiselbeeren – verschlang der Junge jedes Mal mit gleichem Appetit. Manchmal probierte ich etwas Neues

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