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Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Titel: Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Steiner
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denke an die Orchideenmantiden. Alles in ihrem Leben hat einen Sinn. Die Reglosigkeit, das Wechseln der Farbe, auch das Auffressen des Männchens nach der Paarung. Hymenopus coronatus. Für mich sind sie Freunde.
    Vorsichtig lege ich das Buch zurück und hole die Taschenlampe aus der Nachttischschublade. Leise wie ein Geist schwebe ich am Schlafzimmer der Eltern vorbei. Ich höre Vaters Schnarchen, einen tropfenden Wasserhahn, das Ticken der Küchenuhr. Schließlich stehe ich an der Kellertür. Ich öffne sie, senke den linken Fuß in die Dunkelheit und steige hinunter.

Volten
    Der Boden wankte. War dies das Ende, ohne dass es je einen Anfang gegeben hätte? Hier stand er an der leeren Straße, und es war ihm, als ob alle für immer gegangen wären. Eine Oma hier, ein Arbeiter dort, ein Hund, ein Vogel, aber das waren nur Geister. Und er selbst? Wieder spürte er das Wanken unter seinen Füßen. Igor schloss die Augen, doch das Wanken blieb.
    Wie immer hatte das Schuljahr mit einem gemeinsamen Mittagessen geendet. Als danach die Zeugnisse verteilt wurden, war ein Quietschen und Röhren durch das ganze Schulhaus gedonnert. Igor hatte das Büchlein unbesehen in die Schultasche gesteckt. Noten, so ein Schwachsinn. Eine Weile hatte er dem Treiben zugeschaut. Kein Fred, kein Manu weit und breit. Er war froh gewesen, sie nicht zu sehen. Die Aussicht auf Ferien machte ihn garstig. Vor dem Schulhaus eine Meute von Eltern, manche im Kombi mit laufendem Motor, die Strandsachen auf dem Dach festgezurrt. Mädchen, sich küssend, Jungen, sich gegenseitig anspringend. Aus diesem Gewühl war er ausgespuckt worden, und er war losgerannt. Bei Freysingers Kirschbaum angekommen, hatte er die Schultasche hingeschmissen. Doch anstatt sich ins Gras zu setzen, hatte er sich am Baum festgehalten, reglos wie eine Statue, dann war er zwischen den Hecken weggeschlüpft, durch einen Garten gehuscht, hinter parkierten Autos verschwunden.
    Nun stand er an der leeren Straße, und der Boden wankte. Zwischen den Häusern sah er einen Jungen, der ein Selbstgespräch führte und beinahe über seine riesige Schultasche fiel. Auch er nur ein Geist, dachte Igor. Ihm fiel seine Mutter ein. Bestimmt wimmerte sie bereits Unverständliches in die filzige Luft der Wohnung. Bestimmt würde sie bald wie eine Sirene zu heulen beginnen. Er setzte sich in Bewegung und fragte sich, ob er bei Manu klingeln sollte. In ihrer zerknitterten Bluse und den verwaschenen Jeans würde seine Mutter im Türspalt stehen, im Gesicht ein breites Lachen: »Oh, Igor, komm rein, Manu ist gleich da.« Er würde sich durch den engen Korridor zwängen, an den Fotos unzähliger Gotthardpostautos vorbei, und schon käme ihm Manus Vater entgegen, die Hand weit ausgestreckt: »Igor, schön, dich zu sehen, wie geht’s deiner Mutter?«
    Vor dem Munzinger-Laden blieb er stehen. Er hörte über sich ein Grunzen. Der Dicke auf dem Balkon. Man erschrak jedes Mal, wenn sein Kopf über der Brüstung erschien. Igor hütete sich davor, hinaufzusehen. Er fand ein paar Münzen in seiner Hosentasche und zählte sie ab. Für zwei, sogar drei Snickers reichte es. Er trat in den Laden. Frau Munzinger sagte nie etwas, wenn Schüler ihr Süßigkeitenregal leerplünderten. Er streckte ihr die Handvoll Münzen hin und stopfte die Snickers in die Hosentasche. Frau Munzinger zwinkerte ihm zu. »Grüß deine Mutter, ja?« Er nickte.
    Seit die Worte verdreht aus ihrem Mund kamen, konnte seine Mutter nicht mehr allein einkaufen. Wenn sie sich bei Frau Munzinger an die Käsetheke stellte und mit dem Finger auf die gewünschte Sorte zeigte, übersetzte Igor ihre Quäklaute. Das erste Mal hatte er sich hinter dem Müsliregal versteckt und geheult. Mittlerweile kamen sie alle drei gut damit zurecht.
    Unter dem Kastanienbaum bei der Hirscheneck biss er in das erste Snickers. Auf dem Parkplatz des Restaurants standen zwei Kastenwagen. »Baggenstos Fleisch + Wurst«, »Kurt Hösli – Ihr Partner für Gartenanlagen«. Ein Auto fuhr vorbei. Über seine Flanke zog sich ein Schachbrettbalken, ein roter Wimpel zierte die Antenne. Igor versteckte sich hinter dem Stamm der Kastanie. Zehn Sekunden lang donnerte ein Bass, dann war es wieder still. Igor schob sich das letzte Snickersstück in den Mund. Er dachte wieder an Manu. Bestimmt war er nach dem Verteilen der Zeugnisse nach Hause gerannt und im Keller verschwunden. War eben seine Art, auf das Gewühl zu reagieren. Dort unten setzte er sich auf einen Schemel und

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