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Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Titel: Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Steiner
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ausgelöst hatten. Sie waren unentwirrbar ineinander verharkt, die beiden Männer rührten sich nicht.
    Igor dachte an Manu, Fred, Renate, seine Mutter, spürte neben sich Schorsch, der von unbekannt beauftragt worden war, hier am Brunnen aufzutauchen. Jetzt, flüsterte er sich zu. Und rannte los. Im Augenwinkel sah er noch, wie Schorsch die Arme in den Brunnen senkte und Freysinger auf seinen langen Beinen zu schlingern begann. Dann war er weg.
    Er rannte, ohne zu wissen wohin. Der Knall, dachte er. Freysinger, dachte er. Was ist passiert? Es hatte kawumm gemacht, aber die Welt war nicht leer, wie Schorsch prophezeit hatte. Im Gegenteil. Igor sah nun andere, die auch rannten, alle in die gleiche Richtung. Igor rannte weiter quer zu ihnen, obwohl er noch immer nicht wusste, wohin. Dann sah er Freysingers Kirschbaum und den braunen Opel. Er blickte sich um, kroch flink unter das Auto. Die Wange auf dem heißen Boden, schaute er in die Helle hinaus. Überall eilende Füße, Rufen, gellende Pfiffe. Nebenan unter dem Baum lag seine eigene Schultasche. Kein Knall, kein wankender Boden. Nur die Füße und die Stimmen.
    Minuten vergingen, und Igor lag noch immer da. Dann hörte er ein Schlurfen, sah wieder ein Paar Füße, diesmal langsam auf das Auto zugehend. Direkt vor dem Auto blieben sie stehen. Es quietschte, die Füße verschwanden, die Tür knallte zu. Der Motor ging an, eine Rauchwolke verdunkelte den Tag, und Igor dachte: Manu, Fred. Meine Freunde. Für immer. Und es war ihm, als ob jetzt etwas anfing, für das es noch keinen Namen gab.
    Dann setzte sich das Auto in Bewegung.

Patt
    Anfänge überall. Ich sehe Sterngeburten, Kontinentalverschiebungen, die Entstehung neuer Arten, und mittendrin unsere Geschichte, winzig klein. Dort Galaxien und Planeten, hier Magda und ich. Doch wo ist unser Anfang? Jedes Mal, wenn ich ihn suche, sehe ich wieder nur die Mitte. Jenen Augenblick, als mein Sohn mit einem Satz die Welt zum Stehen brachte.
    Es war ein lauer Frühlingstag, Bienen summten im Blumenteppich, zu zweit trugen wir einen Komposthaufen ab. Ganz oben lag eine Schicht Gras, die just jenen Gärungsstand erreicht hatte, den man von Silos kennt. Wir verschoben die Schicht an einen anderen Ort, sie würde den Grundstock eines neuen Komposthaufens bilden. Ich erzählte meinem Sohn ein paar Dinge über Gärung und die Verdauung von Wiederkäuern. Wo Zucker drin ist und Sauerstoff fehlt, gärt es. Das Silofutter, die angefaulte Birne, der Rülpser einer Kuh, der Pflaumenschnaps, alle haben sie etwas gemeinsam. Mein Sohn verzog die Nase, er war begeistert. »Ja, halt die Nase nur hin«, sagte ich, »und riech an der Welt, dann erzählt sie dir ihre Geschichten.« Er kratzte sich mit erdigen Fingern die Stirn, sagte: »In jedem Kleeblatt steckt schon der nächste Kuhfladen.« Wir schauten uns begeistert an, und die Welt stand für ein paar Sekunden still. Alles ist da, dachte ich, alles, was ich mir für mein Leben gewünscht habe. Genau sieben Jahre und vierzig Wochen alt war mein Sohn an diesem Tag.
    Doch wie hatten wir es bis dahin geschafft? Was war vor der Mitte? Ich sehe es nicht. Ich weiß bloß, dass diese sieben Jahre und vierzig Wochen nicht das waren, wofür ich sie damals hielt. Ich dachte: Die Familie hält dich fest, wenn du am Abgrund taumelst, sie schlingt sich als warme Decke um dich, wenn der Tod durch Erfrieren droht, und selbst wenn sie eines Tages ganz auseinanderfällt – das Wissen, dass es die Familie gibt, wird dich retten vor dem Fall über die Kante, dem frostigen Erstarren. Aber ich war unerfahren im Denken, ich hatte es nie geübt. Stattdessen perlte mir sämtlicher Verstand in die Hände, und ich grub, kräuselte, knetete ihn in die Erde meines Gartens. Ich hielt mich fern von allen anderen, denn meine Welt war eine Welt der Langsamkeit.
    Ich sehe einen endlosen Himmel, und ich sehe eine winzige Decke. Unsere Familiendecke, warm und weich. Unter ihr sind zahllose Anfänge verborgen. Auch unser allerletzter. Ich sehe ihn weniger deutlich als die Mitte, aber ich sehe ihn. Hier suche ich weiter.
    Nach langem Hin und Her hatten Magda und ich uns darauf geeinigt, dass ich das Wagnis mit der Gärtnerei eingehen sollte. Sie hatte gerechnet und gemahnt, dass es kaum für die grundlegendsten Bedürfnisse reichen würde. Ich hatte erwidert: »Wir wissen nicht, was die grundlegendsten Bedürfnisse sind, wir müssen es herausfinden«, und hatte Magda an den Schultern gepackt, »fast alle Bedürfnisse

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