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Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Titel: Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Steiner
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wieder zur Wildnis geworden. Manchmal gehe ich hin und arbeite mich mit blutroten Händen durch die Brombeersträucher, im Herbst sammle ich Nüsse ein. Ganz selten treffe ich jemanden, der seinen Sack füllt. Ich nicke ihm ermunternd zu. Die meisten Nüsse verrotten unter den Bäumen. Keiner will sie haben.
    Ich arbeite jetzt in einer Sägerei. Es ist derart laut an meinem Arbeitsplatz, dass man sich nicht unterhalten kann. Zuweilen sehe ich, wie der Chef jemanden anschreit, und denke an Gramsci. Mich schreit der Chef nie an. Hat er Angst vor mir? Hat er erfahren, dass ich Bescheid weiß über den Marxismus?
    Ich habe mit Holz zu tun. Man muss dieses Material verstehen. Das Verständnis beginnt in den Händen und lässt sich später in den Augen nieder. Man befühlt einen Stamm, man lässt den Kennerblick auf seinen Musterungen spazieren. Es ist kein Denken, das man dabei durchquert, aber am Schluss kommt man dennoch im Verstehen an. Wie wird dieses Holz sich verformen, bei Feuchtigkeit, bei Wärme, bei wechselndem Klima? Will es schrumpfen, sich biegen, will es Risse bilden? Wie würde es jetzt brennen, wie in zwei, in zehn, in fünfzig Jahren? Hier in der Sägerei kann ich der Eigensinnsmensch bleiben, der ich immer war, trotz Gehörschutz auf dem Schädel und Firmen-Blaumann.
    Manchmal, wenn ich am Fenster sitze und dem Tageslicht zuschaue, denke ich an die Familie. Noch immer verstehe ich sie nicht. Sie fällt bröckelnd von dir ab und legt das frei, was vor ihr schon da war: deine karge, nackte Seele. Du denkst: Ich weiß nicht, was die alte Klapperseele noch taugt. Lassen wir sie in Frieden.
    Ein einziges Mal kam ein Brief von meinem Sohn zurück. Er schrieb: »In der Schule lernen wir, wie Pflanzen Photosynthese machen. Sie können es nur mit Grün. Warum, weiß ich nicht mehr. Aber sie brauchen Chlorophylle dafür. Die machen etwas mit den Elektronen. Und dann entstehen aus Licht Traubenzucker und Sauerstoff. Sauerstoff ist wichtig für die Menschen. Warum, weiß ich nicht mehr. Ich habe Mutter gefragt, warum du nicht mehr da bist. Sie sagte, das ist eine lange Geschichte. Ich hoffe, es geht dir gut. Auf Wiedersehen.«
    Ja, unsere Geschichte ist eine lange Geschichte. Ihr Ende ist kein Ende. Sie wird immer weitergehen. Ich drehte den Brief meines Sohnes um und schrieb auf die blanke Rückseite: »In jedem Kleeblatt steckt schon der nächste Kuhfladen.« Heute hängt das Blatt an der Wand über dem Küchentisch. Jeden Tag bleibe ich davor stehen. Ich denke mir nichts dazu, und doch sinken die Worte immer weiter in mich hinein, dorthin, wo das Verstehen passiert.

Fallstricke
    »Es war der Süße«, quiekt Steffi, »er hat uns zugewinkt.« Schon möglich, denke ich und schubse mit dem Turnschuh einen Kieselstein vom Trottoir. Steffi sieht der roten Limousine nach, ihre Perlaugen schimmern. »Er hat uns auf die Ärsche geschaut und sich etwas dazu gedacht.« Ich schlucke. Dann sage ich: »Mann, Mann!«, und Steffi beginnt eine Melodie zu trällern.
    Wir stehen am Postplatz. Wenig los. Ich sollte eigentlich nicht hier sein, aber Steffi hat mich abgefangen, als ich hinter den Autos vorbeigehuscht bin. Ich wollte überhaupt nicht hierherkommen. Ich wollte, weiß nicht. Jedenfalls nicht zum Postplatz. Weit, weit weg, auf irgendeine Insel. Und nie mehr zurück.
    »Jeder Typ, der dir nicht auf den Arsch schaut, ist Vollhorst. Und jeder Typ, der schaut, ist ein Finger, aber was für einer«, sagt Steffi immer. Weiß nicht, was ein Finger ist, aber bei ihr kann’s nur eins heißen. Wenn Typen um uns herumschleichen, lachen wir innerlich über sie und klimpern mit den Wimpern. Grapscht einer rum, sage ich: »Pass auf, Mann. Nicht mit mir!« Einfach so, weil mir nichts anderes einfällt. Wenn die Alten wüssten, was mir alles nicht einfällt. Und was mir stattdessen im Kopf herumtobt.
    War es nun der Süße? Alle sagen, er sei verschwunden, doch Steffi will ihn auf Teufel komm raus durch die verdunkelten Autofenster gesehen haben. Mir ist’s egal. »Sein Gesicht war ganz nah an der Scheibe«, gluckert sie. »Er fährt zum Tennisplatz. Komm, wir gehen!« Die Leute behaupten, er habe da früher trainiert. Er hätte sich einen eigenen Platz bauen können, kein Problem für ihn, aber er wollte in seinem alten Revier trainieren, sagen sie, da, wo er sich wohlfühlte. Seit Monaten hat man ihn nicht gesehen, und jetzt hat ausgerechnet Steffi ihn entdeckt. Sie sagt: »Tennisröckchen wär jetzt schick.« Wir haben beide keins.

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