Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Titel: Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Steiner
Vom Netzwerk:
der Flohmärkte, wo die Bücher immer von Henri Troyat oder Pearl S. Buck waren und Die Herrin von Kaschtanowka oder Das Mädchen Orchidee hießen. Stapelte weiter, ohne zu lesen. Bis ich auf dieses speckige Paket mit dem Titel Gefängnishefte stieß.
    Der Mann auf den Umschlägen der sechs Bände blickte süffisant hinter seiner Nickelbrille hervor und ich dachte: Warum um alles in der Welt hat man diesen harmlosen Klosterschüler ins Gefängnis gesteckt? Vielleicht stellte ich mir meine eigene Gegenwart als Gefängnis vor, auf jeden Fall hielt ich Herrn Gramsci, den Autor dieser Hefte, für einen Verbündeten. Ich kaufte die Bände, schnürte sie auf dem Gepäckträger fest und fuhr nach Hause. Ich setzte mich auf den Boden, ich las und ich litt. Antonio Gramsci, erfuhr ich, war ein Baumeister am Gebäude des Marxismus. Mit Ziegelsteinen, die sich Profitmonopol, Hegemonie oder Gesellschaftsformation nannten, errichtete er wuchtige Mauern, innerhalb derer es sich bestimmt gut leben ließ, aber ich fand keinen Eingang in das Gebäude. Kaum einen Satz verstand ich. Dennoch las ich immer weiter, las bereits Gelesenes nochmals und strich Wiedergelesenes an. Ich dachte: Du musst das nicht gut finden, aber du musst versuchen, es zu verstehen, denn es geht ums Denken. Und ich dachte über das Schweigen von Magda nach, aber auch über das unaufhaltsame Reden des Herrn Gramsci in seiner Gefängniszelle. Hatte Gramsci vor seiner Gefangenschaft auch so viel geredet? Und was war Magdas Theorie? Was erzählte sie meinem Sohn, wie erklärte sie ihm unsere Geschichte?
    Mir selbst war unsere Geschichte längst entwischt. Magdas Anwalt legte mir geduldig dar, wie sie weiterging, und genauso geduldig wartete er auf mein Nicken. Auch im Jugendamt und bei den anderen Behörden wartete man geduldig auf mein Nicken. Es ist keineswegs so, dass ich nichts gegen meine Situation unternommen hätte. Ich habe gemacht, was ich konnte, habe das Nicken immer wieder verweigert. Unsere Geschichte bekam ich dennoch nicht mehr zu fassen. Ich bin dem Anwalt nicht böse, auch denen vom Jugendamt nicht. Sie haben ihre Arbeit getan. Und vielleicht war es richtig von Magda gewesen, mein Besuchsrecht einfach zu verweigern. Möglich, dass ich meinem Sohn nicht gutgetan, seinen Bedürfnissen nicht entsprochen habe. Wer weiß schon, was seine wirklichen Bedürfnisse sind.
    Tage und Nächte lösten sich weiterhin ab wie ein hämmernder Puls. Manchmal stellte ich mich in den Garten und beobachtete die Lichtveränderungen am Horizont. Auch Seps Vogelscheuche lehnte sich nach hinten und schaute in den Himmel. Ich rief zu ihr hoch: »Wir beide, wir sind Verbündete.« Ich suchte im weiten Blau den Punkt, den sie mit ihren Knopfaugen fixierte. »Wir warten auf die Ankunft des Denkens, aber es kommt nicht. Was soll man da tun?« So standen wir da, zwei Pfropfen, verloren in den endlosen Horizontalen, die alles Leben definierten.
    In der kargen, leeren Wohnung las ich, und langsam sank ich in die Welt von Gramscis Worten, seine Theoriewut, seinen Denkrausch. Ich begann zu verstehen, was der Marxismus ist und warum es ihn gibt, warum so viele Autoren ihn heraufbeschwören und über ihn streiten, warum sie nie aufhören werden, ihn heraufzubeschwören und über ihn zu streiten. Sie alle, das spürte ich vage, kommen von außerhalb des Lebens, wie ich es kenne. Sie kommen von dort, wo das Denken nicht in den Händen stattfindet, wo das Sein immer ein gesellschaftliches Sein ist. Ich wusste, dass ich nie ein Marxist sein würde. Ein Marxist, dachte ich, versucht nicht, den Anfang seiner Geschichte zu finden, er denkt ihn sich aus. Ein Marxist hat immer mehr Antworten als Fragen. Ein Marxist weiß in jedem Moment, wer er selbst ist.
    Anfang und Ende. Ich bin sicher, es gibt sie beide. Aber sie sind nie das, was sie zu sein scheinen. Irgendwann wurde die Geschichte von Magda, mir und unserem Sohn sichtbar, doch begonnen hat sie viel früher. Und wann sie wirklich endet, weiß keiner von uns. Denn unsere Geschichte ist die Geschichte der Welt. Sterngeburten, Kontinentalverschiebungen, neue Arten. Magda. Ich. Wir.
    Ich hatte lange nichts gelesen und gedacht, hatte nur in meiner Wohnung gesessen und dem Fenster zugesehen, wie es das Tageslicht hereinlässt. Da sah ich diesen Mann. Ich ging näher ans Fenster. Er lag ausgestreckt auf dem Trottoir, die Arme flach am Körper. Als ob er sich zum Sonnenbaden hingelegt hätte. Ich hatte ihn noch nie gesehen. Dann bemerkte ich seine

Weitere Kostenlose Bücher