Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)
zitternden Hände. Ich holte ein Glas Wasser, nahm einen Apfel vom Küchentisch und rannte hinaus.
Wir wurden Freunde und sind es heute noch. Gustav hat in seinem Leben nie etwas anderes getan, als zu denken. Das Denken ist nicht nur sein Beruf, es ist seine Substanz, denn es hat ihn vor seiner Vergangenheit gerettet. Als Erbe eines Lampenfabrikanten hatte er einen einzigen Daseinszweck, nämlich die Nachfolge des Vaters zu übernehmen. Ich bin das Reinprodukt dynastischen Denkens, sagt er. Doch Gustav wollte nicht, was der Vater für ihn vorgesehen hatte. Er musste sich eine neue Daseinsberechtigung suchen. Vor vierzig Jahren hat er seinen Vater zum letzten Mal gesehen. Trost hat er in der Philosophie gefunden. Platon, Cicero und Epiktet sind heute seine Patchworkfamilie.
Nachdem Gustav das Glas ausgetrunken hatte, sagte er zu mir: »Danke, Alter.« Da ich erst dreiunddreißig war, hielt ich dies nicht gerade für eine passende Einschätzung. Er fuhr fort: »Wir alten Knaben haben’s nicht leicht. Hilf mir auf, bitte.« Ich half ihm auf. Als er auf den Beinen war, legte ich den Kopf in den Nacken und blickte an ihm hoch. Er konnte nicht älter als vierzig sein. Er schüttelte sein ausgebeultes Jackett zurecht, ging in die Knie, streckte die Hand aus. »Ich bin Gustav. Darf ich dich einladen? Ich kann ganz leidlich kochen.«
Gustav hatte recht gehabt. Ich hatte in den Monaten zuvor eine beschleunigte Alterung durchgemacht, die an meinem Gesicht abzulesen war. Und deshalb war ich seiner Freundschaft würdig. Denn Gustav hatte sich schon immer als alten Mann verstanden. Als einen, der die stets gleiche Hose im stets gleichen Hosengeschäft kauft, der beim Spazieren die Hände hinter dem Rücken verschränkt, der sich die Nase mit einem Stofftaschentuch schnäuzt. Alt zu sein bedeutete für ihn auch, jederzeit die Konsequenzen seiner eigenen Handlungen zu ertragen. Alt zu sein war die Voraussetzung und die Folge seiner Lebensphilosophie.
Er konnte ganz leidlich kochen, mehr nicht. Vor allem verstand er es, leckere Zutaten zu beschaffen. Man freute sich aufs Essen, wenn man sah, was er beim Kochen aus dem Kühlschrank zauberte. An diesem ersten Abend schenkte er mir einen Sherry ein. Ich hatte zuvor noch nie Sherry getrunken. Gustav sah mir mit erwartungsvollen Augen zu, als ich nippte. Ich sagte: »Ah.« Er sagte: »Und?« Ich hob das Glas und sagte: »Gelb wie ein Butternusskürbis, leicht abgetönt. Interessante Farbe.« Er strahlte, ich nippte weiter. Dann sah ich an der Wand dieses Spielbrett hängen und erinnerte mich an eine weit zurückliegende Zeit.
Das nächste Mal schenkte mir Gustav wieder Sherry ein, sich selbst jedoch etwas anderes. »Noilly Prat, pur«, sagte er und zwinkerte. Wir sind dabei geblieben. Er trinkt seinen Noilly Prat, ich bekomme den Sherry, wobei mir scheint, dass dieser jedes Mal eine andere Farbe hat. Das Spiel, das an der Wand hängt, heißt Carambole. Mit einem kleinen, runden Stein schubst man andere kleine, runde Steine in ein Loch in der Ecke des Spielfelds. Manchmal schubst man den falschen Stein an. Manchmal ist der falsche Stein der richtige. Wir lassen keine Gelegenheit aus, einige Runden zu spielen.
Nachdem ich Gustav kennengelernt hatte, pendelten sich meine Tage langsam und fast unmerklich in ihrem alten Gleichgewicht ein. Die Riesen schrumpften zusammen, ich Zwerg wuchs zu meiner ursprünglichen Größe an. Die Landschaft um mich herum wurde fest, und in meinen Kopf kehrte Ruhe ein. Ich war in einem neuen Leben angekommen. Ich fragte mich nicht, wann es angefangen hatte, es war einfach da, und Gustav war ein wichtiger Teil davon.
Eine einzige Verbindung zu meinem alten Leben unterhielt ich noch. Ich hatte begonnen, meinem Sohn wöchentlich einen Brief zu schreiben. Ich erzählte ihm vom 19. Jahrhundert, von der Eisenbahn, den Fabriken, der Bourgeoisie und den proletarischen Revolutionen. Ich dachte mir die Fragen meines Sohnes aus. Vater, warum ist Ausbeutung schlecht? Warum baut heute niemand Barrikaden? Was würdest du tun, wenn du der König der Welt wärst? In meinen einsamen Briefen spielte ich das Vater-Sohn-Fragespiel. Zehn Jahre, fünfhundertundzwölf Briefe lang. Es brachte mich weder meinem Sohn noch Gramscis Philosophie näher.
Es gibt keinen Anfang, kein Ende. Alles beginnt und endet im selben Augenblick. Die Geschichte der Welt setzt sich zusammen aus lauter Ewigkeitsaugenblicken. Alles ist zugleich sichtbar, nichts wird deutlich.
Heute ist der Garten
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